Frankfurter Anthologie: Juliane Liebert: „das große nichts“

vor 21 Stunden 2

Der Tisch ist reich gedeckt: Pasta, Pralinen, Wein. Aber die Nudeln sind kalt, die Süßigkeiten entpuppen sich als Kiloware, und der Riesling ist nur eins: billig. Die kulinarischen Kostbarkeiten erscheinen in diesen Versen im Lichte des Vulgären, ja Ekligen. Als wären sie die Zutaten eines sogenannten binge eatings. Hunger, Genuss oder Sättigungsgefühl sind da nicht vorgesehen; nachträgliche Schuld- und Schamgefühle allerdings unbedingt. Doch der Heißhunger steht einem noch größeren Begehren gegenüber: der Zigarettensucht. Ess- und Rauchlust, Fress- und Zigarettenfrust halten eine hochprekäre Balance.

Im Anschluss an eine nun knapp 250 Jahre andauernde Lyriktradition buchstabiert Lieberts Gedicht aktuelle Körper- und Gefühlskulturen aus, um Fragen nach der angemessenen Lebenshaltung zu formulieren. „das große nichts“ partizipiert hierfür – gemeinsam mit Dichterinnen wie Sirka Elspaß oder Lütfiye Güzel – an Schreibweisen des Nihilismus, die sie mit der Tumblr-Kultur der jüngsten Vergangenheit verschränkt. Auf dieser digitalen Plattform verhandelten vor allem jüngere Autorinnen Essstörung und Depression mit einer eigenen Ästhetik. Lieberts Gedicht überführt diese Konstellation in den schlichten Kontrast zwischen Haben und Wollen. Sechsfach kehrt die Formel „ich hätte lieber Kippen“ wieder, als wäre sie ein Gegenre­frain zum ebenso widerborstigen „Nein, ich esse meine Suppe nicht“. Das Ausloten von Begehrensstrukturen erweist sich als präzise Wertarbeit: Für ein paar Kippen bietet Liebert gleich die ganze Welt. Wertverfall, wo man hinschaut. In dieser Welt hat man die Wahl zwischen zu Ramsch entwerteter Überfülle, der man sich nur hingeben würde, um sich zu übergeben. Es bliebe also: nichts. Und dem Leiden an akutem Suchtmittelmangel, der so lange anhält, bis der anbrechende Tag (Spätis oder Zigarettenautomaten gibt es hier nicht) erlauben würde, die erstbeste Zigarette ihrerseits in Nichts (als Rauch) aufgehen zu lassen. Es bliebe also: wieder nichts. Der Einsatz der zweiten Strophe lässt sich daher als pointiertes Resümee der ersten vier Verse lesen: „Das Nichts ist hier!“

Allerdings ruft das Gedicht das Nihilistische explizit auf, um eine Wendung zu vollziehen: In der DDR firmierte Russland als „der große Bruder“. Die Wendung „bruder stalin“ bildet ein Residuum dieser Redewendung. Provokant, wenn die 1989 in Halle geborene Liebert ausgerechnet Stalin familiäre Nähe zuschreibt. Ironisch markiert bleibt dies, weil zu Stalins Standardrhetorik gehörte, die eigenen Vorhaben und Maßnahmen mit überdimensionierten Etiketten wie „der große Umbruch“ zu veredeln. Das demonstrativ kleingeschriebene „große nichts“ steht demnach für einen Materialismus, der sich in (Zigaretten-)Rauch auflöst. Dennoch geht in diesen Versen die längst verrauchte Hoffnung auf das Kippen der konsumkapitalistischen Gegenwart in eine alternative Gesellschaftsform um.

Mitten im Nichts ein Moment der Heiterkeit

Ein Satz zur zweiten Strophe noch. Die Rede vom Lügen fügt sich in den stalinistisch geprägten Anspielungshorizont. Von Solschenizyn stammt die Formel: „Nicht nach der Lüge leben.“ Doch was bleibt dann gegenüber dem Nichts: „was weiß ich, woran man noch glauben kann?“ Und kurz darauf: „woran soll ich noch glauben?“

Während die Verzweiflung die hier sprechende Figur in ihrer Einsamkeit fest im Griff hat, keimt im Übergang zur dritten Strophe die Liebessehnsucht auf. Könnte die Liebe eine Lösung bieten? Oder ist auch diese vom einst mit ihr verbundenen Exklusivversprechen (du kannst nur eine oder einen lieben) zu Massenware abgestürzt? Hinter dem Liebesversprechen droht erneut das Nichts. In dieser Situation bleibt nur noch die Erinnerung an den Augenblick, in dem ein anderes Schicksal möglich gewesen wäre. Die Figur hat es gesehen: das Lächeln jener Möglichkeiten, die ein anderes Leben erlaubt haben könnten. Nach der verpassten Chance jedoch bleibt nur die schnöde Wiederholung des Unvollkommenen: der Kippenwunsch, der bis zur vierten Strophe retardiert, in die existenziellen Glaubensfragen kippt.

Umso überraschender, wenn der vierte Abschnitt des Gedichts einen vollständigen Wechsel in der Sprechweise (nicht aber im Gesprochenen!) vollzieht. Stellen die ersten drei Strophen ein nächtliches Erlebnis und eine dazugehörige Reflexion vor Augen, so setzen sich die letzten drei Verse nur noch aus den Versatzstücken des vorherigen Gedichts zusammen. Lyrikhistorisch bedeutet dies einen Wechsel aufs Ganze. Weg von der Erlebnislyrik hin zur Schnitt- und Montagetechnik, wie sie vor der Avantgarde um 1900 etwa auch die gewitzte Anakreontik eines Friedrich von Hagedorn betrieben hat: Mitten im Nichts kommt somit ein Moment der Heiterkeit, weil das eigene Schicksal eben nicht einfach nur in die Verzweiflung führt, sondern hierbei (immerhin) Spiel- und Bildmaterial für das eigene poetische Vergnügen zur Verfügung stellt. Hab es schwer, nimm es leicht – das gilt für die Hauptfigur des Textes ebenso wie für das Gedicht selbst, wenn sie beide ihr Lied vom großen Nichts anstimmen.

Juliane Liebert: „lieder an das große nichts“. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 88 S., geb. 18,– €.

Von Christian Metz ist zuletzt erschienen: „Augenmaß“. Matthes & Seitz, Berlin 2024. 122 S., br., 14,– €.

Redaktion Hubert Spiegel

Gedichtlesung Thomas Huber

F.A.Z.

Juliane Liebert: „das große nichts“

kalte nudeln, anderthalb kilo pralinen, billiger riesling, und ich
hätte lieber kippen, ich hätte lieber kippen
als alles andere auf der welt. doch die nacht
ist noch lang und der morgen fern

das große nichts ist hier und bruder stalin ein lügner
was weiß ich, woran man noch glauben kann?
die große verzweiflung hat mich, und ich hätte lieber kippen
ich hätte lieber kippen als alles andere auf der welt

eure liebe ist wertlos, ihr baut sie auf knochen
was ist diese liebe wert, die heute ist und morgen nicht?
es gab diese chance, ihr habt sie vertan
ich habe sie lächeln sehen, woran soll ich noch glauben?

eure liebe ist wertlos, ihr baut sie auf knochen
und die nacht ist noch lang und ich hätte lieber kippen
ich hätte lieber kippen als alles andere auf der welt

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