Film „Ein Haus in Jerusalem“: Im Bus sitzt unbegleitet ein Mädchen

vor 16 Stunden 7

Eine Fahrt von Jerusalem nach Bethlehem dauert nicht allzu lang, es sind ja nur wenige Kilometer. Allerdings befindet sich ein Checkpoint auf dem Weg, den Menschen aus Israel jedoch ohne Umstände passieren können. Trotzdem ist es ein wenig ungewöhnlich, als eines Tages ein unbegleitetes Mädchen im Bus sitzt. Rebecca ist an der Schwelle zur Pubertät, früher sagte man über dieses Alter oft: Jemand wird flügge. Mit dem Erwachsenwerden gehen in Israel auch schmerzhafte Erkenntnisse einher.

Das Haus, in dem Rebecca mit ihrem Vater lebt, bekommt eine Geschichte, die hinter den eigenen Großvater zurückführt. Und mit dieser Geschichte hat es auch zu tun, dass sie nun im Bus sitzt, um nach einer alten Frau zu suchen, die Puppen näht. Puppen, deren bestickte Kleider auf Orte verweisen, die für Menschen aus Palästina einmal Heimat waren.

Der Film „Ein Haus in Jerusalem“ von Muayad Alayan sucht auf zweifache Weise nach einem Punkt, von dem aus sich die komplizierte Gegenwart erzählen lässt. Rebecca kommt mit ihrem Vater Michael neu in die Stadt. Sie bezieht mit ihm diese Villa, zu der ein großer, fast ein wenig verwunschen wirkender Garten gehört. Dort gibt es auch einen Brunnen, der zu einem entscheidenden Schauplatz und zugleich zu einem deutlichen Sinnbild wird.

Hebräisch im Sommercamp

Rebecca und Michael sind beide gezeichnet vom Tod der Mutter des Mädchens. Sie starb bei einem Verkehrsunfall in England. Nun soll die Tochter in einer neuen Umgebung das Leben wieder annehmen lernen. Zuerst einmal soll sie in einem Sommercamp Hebräisch lernen. Doch das Haus und der Garten führen sie auf andere Wege und an den zweiten Ausgangspunkt. Denn der jüdische Staat in der Levante hat, wie auch das Haus im engeren Sinn, ein Davor, von dem gerade auch Jerusalem in jeder Hinsicht durchzogen ist. 1948 und 1967 vor allem sind Daten, die eine eigene Geographie der Umwidmung nach sich gezogen haben.

Über das Haus von Rebeccas Familie heißt es an einer Stelle nur unbestimmt einmal, dass es „leer“ war, als der Großvater es „vom Staat“ gekauft hat. Damit aber ist im Grunde klar, dass es aus einer Eroberung stammt. Ein Zitat von Golda Meir, der späteren Premierministerin Israels, aus dem Jahr 1948 hallt bis heute nach: Sie sprach von einem „Gefühl des Entsetzens“, als sie in Haifa in Häuser von Vertriebenen trat, „in denen gekochtes Essen noch auf dem Tisch stand, Kinder Spielzeug und Bücher auf dem Boden liegen gelassen hatten“.

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Es ist genau diese Erfahrung, an die „Ein Haus in Jerusalem“ behutsam heranzuführen versucht. Muayad Alayan findet mit seinem Film eine Form, sich der politischen Geschichte auf eine Weise zu nähern, die konsequent auf den Horizont einer Heranwachsenden bezogen bleibt. Alles beginnt damit, dass sich in dem Brunnen im Garten eine alte Puppe findet, die der Vater sofort entsorgt.

Er sieht nur ein schmutziges Ding, das Mädchen aber, das vor allem einsam ist, erkennt einen Gegenstand, der das neue Leben in Jerusalem aufschlüsseln könnte. Und folgerichtig entsteht aus der Begegnung mit der Puppe aus der Prähistorie des Hauses etwas, das Muayad Alayan geschickt auf mehreren Deutungsebenen verteilt. „Ein Haus in Jerusalem“ wird zu einer Gespenstergeschichte, denn Rebecca tritt nun in Kontakt mit einem Mädchen, das ihr wie aus einer anderen Zeit erscheint: Rasha ist Palästinenserin, sie hat eigentlich an diesem Ort viel ältere Rechte, die aber niemand anerkennt.

Mit dem Vater in einer geschützten Welt

Sie ist unsichtbar, wie es sich für einen Geist gehört oder für eine „imaginäre Freundin“ – auch in vielen Filmen wurde dieses Phänomen schon thematisiert, dass Kinder, wenn sie einen Konflikt lösen müssen, dies in einem Dialog mit einer erfundenen Figur tun, die nur für sie existiert. Eltern sind über diese Selbstgespräche häufig besorgt, dabei sind sie doch heilsam.

In diesem Fall wird Rasha auch zu einer Begleiterin auf einem Weg der Initiation. Rebecca lebt mit ihrem Vater in einer geschützten Welt. Wie stark dieser Schutz de facto in das Leben eingreift, macht Muayad Alayan in einer Szene deutlich, in der plötzlich die Polizei vor der Tür steht: Die Sicherheitskräfte haben mitbekommen, dass das Mädchen mit Menschen in Kontakt kam, die Arabisch schreiben.

Rebecca hatte nicht viel mehr getan, als ein Bild des Hauses zu posten, um Informationen zu dessen Geschichte zu bekommen. Die vielen Kommentare in einer ihr fremden Sprache konnte sie gar nicht lesen, da muss sie schon ihr Telefon abgeben. Doch ihre Neugierde ist nun geweckt, und mit der Selbstverständlichkeit einer Traumwandlerin findet sie einen Weg bis nach Bethlehem, wo es ein Flüchtlingslager gibt und wo sie eine alte Frau findet, die jene Puppen macht, die für Rasha wie für viele andere palästinensische Kinder ein Ersatz für eine verloren gegangene Heimat sind.

Der Regisseur Muayad Alayan gehört selbst der arabischen Minderheit in Israel an. Mit „Love, Theft and Other Entanglements“ (2015) wurde er bekannt, schon damals ging es ihm um Formen des Dazwischen, zwischen den Radikalen auf beiden Seiten. Er hat auch in Deutschland gearbeitet, am migrantischen Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin.

Und so hat er für seinen international koproduzierten dritten Film „Ein Haus in Jerusalem“ auch deutsche Förderung erhalten. Das Geld ist bestens angelegt, und zwar durchaus im Sinne der viel beschworenen Staatsräson.

Denn die Verhältnisse unter den „brutalen Nachbarn“ (José Brunner) in Israel/Palästina sind so verhärtet, dass es eines Neubeginns bedarf, der elementare Lernprozesse voraussetzt. Rebecca, die selbst eine Fremde in Jerusalem ist, wird zu einer Symbolfigur für eine unbefangene Bereitschaft, sich auf die andere Seite führen zu lassen und dabei zu erkennen, dass sie (in nahezu jeder Nuance des Worts) nicht allein ist. Muayad Alayan erzählt davon mit einer Anmutung von Naivität, die aber in Wahrheit eine psychologisch genauestens durchdachte „Unschuld“ ist – während er zugleich erste Schritte zu der Erkenntnis zeigt, dass aus dem Brunnen der Vergangenheit nicht nur der Horror hervorkommen muss, sondern dass ihm auch gute Geister entsteigen können.

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