Antisemitischer Anschlag in Sydney: Wir müssen das Licht entzünden

vor 20 Stunden 2

Schau dir die Videos nicht an“, tippe ich ins Handy. Es ist Sonntagmorgen. Wieder einmal versende ich Trigger-Warnungen. Denn seit die Push-Benachrichtigung auf meinem Handy aufgeleuchtet ist, habe ich die sozialen Netzwerke durchleuchtet. Medien berichten von mehreren Toten, etliche Verletzte. Wohl zwei Schützen, die mit Langwaffen das Feuer eröffnet haben.

Auf X werden Videos eines mutigen Mannes geteilt, der mutmaßlich einen der Attentäter überwältigt und ihm die Waffe entreißt. Es heißt, es war ein Anschlag auf die jüdische Community. Alle Informationen und das Bild- und Videomaterial versuche ich zu sichten; einen Überblick über den Terrorangriff zu bekommen, der mehr als 16.000 Kilometer entfernt stattgefunden hat. Um das Gefühl von Kontrolle zu haben, in einer Situation, die seit Jahren von Kontrollverlust geprägt ist. Es gibt keine absolute Sicherheit gegen den antisemitischen Terror.

Heute Abend beginnt Chanukka, das jüdische Lichterfest. Entsprechend der Zeitverschiebung kamen am Bondi Beach in Sydney Menschen zusammen, um mit der lokalen Chabad-Community „Chanukah by the sea“ zu feiern. In Erinnerung an die „Wiedereinweihung“ (hebräisch Chanukka) des Zweiten Tempels in Jerusalem, nachdem dieser von den Seleukiden entweiht wurde, werden an acht Tagen Kerzen entzündet – eine nach der anderen. Das Wunder, an das wir erinnern, war, dass ein Behälter mit geweihtem Öl, der nur für einen Tag gereicht hätte, dann doch acht Tage hielt. Das waren genau die acht Tage, die es brauchte, bis neues Öl für den Tempel hergestellt werden konnte. Deshalb werden nicht nur Kerzen entzündet, sondern auch jede Menge fettige Speisen gegessen. Es ist ein fröhliches Fest in der – bei uns – kalten Jahreszeit.

Ein Gebetsschal, getränkt in Blut

In Sydney wollte man am Strand mit einer großen Chanukkia (dem achtarmigen Kerzenleuchter) bei Musik und Spielen für jedes Alter das Fest begehen. Familien und Freunde versammelten sich um die Kerzen. Nun sehen wir Bilder von einem Tallit, einem jüdischen Gebetsschal. Er ist getränkt in Blut – das ist hochsymbolisch. Dabei kommen Erinnerungen hoch. Erinnerungen an Anschläge auf Synagogen.

Da meldet sich der innere Widerspruch: Es ist gefährlich, in der Öffentlichkeit jüdisch zu sein, doch man darf dem Terror nicht nachgeben – angesichts dessen muss man erst recht das Leben feiern. An Chanukka stellt man eigentlich die Kerzen ins Fenster. In Deutschland ist das immer seltener zu beobachten. An anderen Orten, wie in Jerusalem, ist das besonders: die früh anbrechende Nacht, erhellt von Abertausenden Leuchtern, die in Hauseingängen und Fenstern stehen. Ein Lichtermeer in der Dunkelheit. Dieses Fest ist, obwohl es religiös gar nicht so bedeutend ist, für viele Jüdinnen und Juden ein Ausdruck des jüdischen Stolzes. Man soll die Chanukkia, den achtarmigen Leuchter, ins Fenster stellen, damit sich alle Welt gemeinsam an dem Wunder erfreuen kann, das dem jüdischen Volk vor fast zweitausend Jahren geschah. Selbstbewusst jüdisch sein – eine Botschaft, die viele jüdische Menschen in den vergangenen Jahren in ihrem tiefsten Inneren bewegt hat.

Menschen spenden einander nach dem Anschlag an Bondi Beach in Sydney Trost.Menschen spenden einander nach dem Anschlag an Bondi Beach in Sydney Trost.AFP

Gerade in der Diaspora ist es schon lange so, dass Jüdinnen und Juden genau aufpassen, wo und wie sie sich als jüdisch zu erkennen geben. Manche achten darauf, wo sie Hebräisch sprechen. Man zieht – wenn man täglich eine Kippa trägt, was eher eine Minderheit tut – lieber eine Cap auf. Manche haben Unis oder Schulen gewechselt. Nachdem es im Anschluss an den „Schwarzen Schabbat“, die Massaker und die systematisch verübte sexuelle Gewalt der Hamas, zu einer globalen antisemitischen Eskalation kam, ist man vorsichtig geworden. Die teilweise mörderische Gewalt, die sich an Orten wie Berlin, Manchester, Washington und Boulder, Colorado entladen hat, tat ihr Übriges. Die Stimmen, die vom Auswandern vor allem nach Israel sprechen, mehren sich.

Ein befreiendes Gefühl

Doch auch diejenigen, die sich klar gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seine rechtsextremen Koalitionspartner stellen und es abgelehnt haben, dass der enthemmte Krieg gegen die islamistische Terrororganisation Hamas gegenüber der Befreiung der Geiseln priorisiert wurde, empfinden, wenn sie am Ben-Gurion-Airport in Tel Aviv landen, ein befreiendes Gefühl. Dort gab es zwar die alltägliche existenzielle Bedrohung durch die Handlanger Irans in der Region, aber sie hatten das Gefühl, zumindest ihre jüdische Identität freier ausleben zu können.

Ein Mitglied der jüdischen Gemeinde von Sydney in der Nähe des Anschlagsorts.Ein Mitglied der jüdischen Gemeinde von Sydney in der Nähe des Anschlagsorts.AFP

Nach zwei Jahren entgrenztem Krieg, der viel zu viele Israelis und Palästinenser das Leben gekostet hat, kam es zu einem brüchigen Waffenstillstand. Damit war bei vielen Jüdinnen und Juden die Hoffnung verbunden, dass die ständige Bedrohung abnähme. Doch dagegen strebt das Wissen darum, dass sich diese Eskalation nicht zurückschrauben lässt. Antisemitismus ist so normalisiert wie seit Jahrzehnten nicht mehr. (Vereitelte) Anschläge – durch Rechts- und Linksterroristen wie auch Islamisten – sind nahezu an der Tagesordnung. Die Bundesanwaltschaft erhebt Anklage gegen Auslandsoperateure der Hamas, die Anschläge auf jüdische und israelische Einrichtungen geplant haben sollen. Iran hat ebenfalls solche Einrichtungen für Vergeltungsschläge ausspioniert. Die Bedrohungslage ist abstrakt, es kann jederzeit zu Gewalt kommen. Aber: Antisemitismus ist keine Naturkatastrophe, auch wenn er im schlimmsten Fall katastrophale Auswirkungen haben kann. Es ist ein Pro­blem, auf das es Antworten gibt. Doch viel zu oft gibt es warme Worte statt Taten – denn warme Worte kosten nichts.

Wie soll man die Hoffnung bewahren? Ich denke an einen der Menschen wie den ermordeten Hersh Goldberg-Polin. Er war Fußballfan des israelischen Vereins Hapoel Jerusalem und vom SV Werder Bremen. Er kämpfte für Koexistenz und wurde durch das antifaschistische Umfeld der Ultragruppe Brigade Malcha geprägt. Nach dem 7. Oktober 2023 gehörte er zu den „Beautiful Six“. Dabei handelte es sich um eine Gruppe israelischer Geiseln (neben Hersh waren es Carmel Gat, Eden Yerushalmi, Almog Sarusi, Ori Danino, and Alex Lobanov), die gemeinsam gefangen gehalten und kurz vor dem Eintreffen der israelischen Armee in ihrem Versteck ermordet wurden.

Menschen, die emphatisch und solidarisch sind

Ihre Familien haben in den vergangenen Tagen der Veröffentlichung von Videoaufnahmen, die vermutlich zu Propagandazwecken von der Hamas aufgenommen worden sind, zugestimmt. Auf diesen ist zu sehen, wie die „Beautiful Six“ im Dezember 2023 in dem dunklen Tunnel unter der Erde von Gaza Chanukka feiern. Almog Sarusi sagt: „Frohe Feiertage für uns und alle Menschen in Israel, dass wir jedes Jahr feiern werden, dass wir glücklich und gesegnet sein werden und dass wir mit Hilfe der Wunder, die an diesem Feiertag geschehen sind, mit einem großen Wunder nach Hause gehen werden, dass wir zu unserem normalen Leben zurückkehren, dass wir glücklich und gut sein und dass wir uns alle immer freuen werden! Amen.“ Sie umarmen sich, beten und singen gemeinsam.

Man muss diese Videos mit etwas Abstand betrachten, denn auch sie gehören zur psychologischen Kriegsführung der Hamas. Die Täter haben sie aufgenommen, um die Angehörigen und die israelische Gesellschaft zu demoralisieren. Zugleich ist der Zusammenhalt der sechs Geiseln berührend. Hersh selbst zeigt seinen unbändigen Lebenswillen, indem er in einer zeitgleich veröffentlichten Videosequenz „Yallah Hapoel“, was in etwa „Vorwärts, Hapoel“ bedeutet, grinsend in die Kamera ruft. Die Feier von Chanukka an einem solch grausamen Ort lässt mit den Tränen ringen.

Für den Sammelband „Juden auf dem Platz, Juden auf den Rängen“, den ich gemeinsam mit Ruben Gerczikow veröffentlicht habe, schrieb Hershs Mutter in ihrem „Brief aus Jerusalem“, dass es in den „qualvollen, zermürbenden 330 Tagen von Hershs Gefangenschaft, bis wir von seiner grausamen Ermordung erfuhren“, gerade „die Unterstützung, die Liebe, die Nachrichten, die Banner bei Spielen und das anhaltende Engagement für Hersh und alle Geiseln“ gewesen seien, die ihr „buchstäblich das Atmen ermöglichten“.

Das ist es, was Hoffnung gibt: dass es da draußen Menschen gibt, die empathisch und solidarisch sind, die das Schicksal anderer ehrlich und tief berührt und die unter persönlichem Einsatz für andere kämpfen. Sie alle tragen den Funken in sich. Einen Funken, der das Licht entzündet, das es in den bitteren Stunden einer immer dunkler werdenden Welt braucht. Denn auch das lehrt uns Chanukka: Das Licht vertreibt die Dunkelheit, aber dafür braucht es den Mut, das Licht in die eigene Hand zu nehmen.

Der Autor ist Politik- und Religionswissenschaftler und politischer Schriftsteller. Er beleuchtet Antisemitismus, Erinnerungs­kultur, Intersektionalität und Queerness.

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