Pussy Riot: Nur Spott hilft gegen ein System, das Menschen verzehrt

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Spätestens mit ihrer Teilnahme an dem Punk-Gebet in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathe­drale („Jungfrau Maria, Mutter Gottes, verbanne Putin“) im Jahr 2012 stieg Maria „Mascha“ Aljochina zu einer weltweit bekannten Oppositionellen auf. Der Auftritt des feministischen Performancekollektivs Pussy Riot gegen die Allianz von orthodoxer Kirche und russischem Staat hatte für sie brachiale Konsequenzen: Sie wurde zu zwei Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt und musste ihren fünfjährigen Sohn zurücklassen. 2018 schrieb die damals dreißigjährige Aljochina die Autobiographie „Riot Days“ über ihre Haftzeit.

Mit ihrem neuen Buch „Political Girl“ rekapituliert die Tochter einer alleinerziehenden Programmiererin nun die Zeit seit ihrer Freilassung kurz vor der Annexion der Krim bis zu ihrer halsbrecherischen Flucht nach Island im Jahr 2022 und beschreibt eindringlich die Wende, die das russische Regime, begleitet vom Aufstieg militanter Nationalisten, gegenüber seinen Gegnern vollzog. In ihrem Fall ist es eine nicht abreißende Abfolge von gesperrten Konten, beschlagnahmten Smartphones, Haftzellen, Gerichtssälen und Hausarresten.

Melancholie und unerschütterlicher Widerstandsgeist

Kein Protest in der Öffentlichkeit, ob Kunstaktion, Instagram-Post oder Teilnahme an einer Demonstration, blieb unbeantwortet. Selbst wenn Pussy Riot in den entlegensten Regionen Russlands zuschlug, tauchten Trupps von verdeckten Ermittlern auf, die als vermeintliche Passanten die Gruppe daran hinderten, ihren Protest für die sozialen Medien zu filmen. Ihre Autos wurden von der örtlichen Polizei persönlich demoliert, eine Anzeige war zwecklos.

 „Political Girl“. Pussy Riot – Leben und Schicksal in Putins RusslandMaria Aljochina: „Political Girl“. Pussy Riot – Leben und Schicksal in Putins RusslandBerlin Verlag

Aljochina, die das temporeiche Buch zusammen mit Olga Borisova, ebenfalls Mitglied von Pussy Riot, geschrieben hat, deren unerbittlicher Tonfall aber dominiert, reagiert auf diese zynische Willkür mit schwarzem Humor, gelegentlich kurz aufflackernder Melancholie und unerschütterlichem Widerstandsgeist. Ihr Protokoll liest sich teils wie ein bohemienhafter Abenteuerroman, teils wie ein Bewusstseinsstrom mit Rückblenden, Dialogen und Charakterzeichnungen. Analytische Distanz tritt nur am Rande auf, dafür treffen ihre Einordnungen ins Mark, etwa wenn sie schreibt: „Der tyrannische Wille Putins hat einen Kult des starken Führers geschaffen, den Kult vom ‚Vater der Nation‘. Die Erinnerung an den Gulag, die Informationen über seine Opfer, die Erfahrungen von Millionen Menschen, die von diesem System vernichtet wurden, modern in geheimen Archiven vor sich hin. Warum? Weil die Tradition der Unterdrückung fortgeführt wird, wenn auch unter einer neuen Handelsmarke.“

Aljochina vertraut auf die Dramatik des Erlebten und verknüpft die knappen Erzählfäden geradezu meisterlich zu einer beklemmenden Bestandsaufnahme der russischen Misere, deren Ursprünge sie in der nie aufgearbeiteten Gewaltkultur in Schulen, Militär, Familie und Staat sieht.

Traumatische Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken

Sie erinnert sich an die akribische Planung der Aktionen von Pussy Riot, die Transparente, die in der Lubjanka entrollt wurden, die Regenbogenfahnen, die urplötzlich auf Dächern von Ministerien auftauchten. 2018 hat sie die Durchführung des Platzsturms beim WM-Finale mitgeplant. Sie ist auf dem Rollfeld, als Alexej Nawalny, genesen von der lebensbedrohlichen Vergiftung, von Berlin nach Moskau zurückfliegt. Auf den internationalen Tourneen der Gruppe bleiben auch die USA nicht verschont. Sie inszeniert einen Protest im Trump Tower in New York, erntet aber im Vergleich zu Russland nur schwache Resonanz. In ihrer Heimat sieht sie sich dagegen mit einem steigenden Gewaltpegel konfrontiert: 15-tägige Haftzyklen, ständige Überwachung und Angriffe durch junge, oft arbeitslose Männer, die als Gegendemonstranten den Aktivistinnen ätzende Desinfektionsmittel in die Augen spritzen – eine von ihnen erblindet.

Durchbrochen werden diese Passagen durch Episoden, die persönlicher sind als in ihrem vorherigen Buch. Aljochina schildert traumatische Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken in ihrer frühen Jugend, weil sie den Schulbesuch verweigerte. Sie schreibt über den Einfluss von Filmen wie „Bonnie und Clyde“ oder die Bedeutung von Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“, dessen Absurdismus ihr, ähnlich wie unter Stalins Säuberungen, eine Antwort auf die ab­struse Logik des gegenwärtigen Regimes bietet.

Mit der Mitstreiterin Lucy Shtein, die sich als heterosexuell versteht, bis sie auf Aljochina trifft, verbindet sie eine stürmische Liebe. Sie verabreden sich trotz Fußfesseln in den Kellern von Krankenhäusern, schreiben sich Briefe in der Haft und beginnen gleichzeitig einen Hungerstreik. Der Untertitel erinnert bewusst an Wassili Grossmans Roman „Leben und Schicksal“, der beschreibt, wie totalitäre Systeme Menschen verzehren. Aljochina konzentriert sich auf das Innenleben aus 48-stündigen Verhören, gelangweilten Richtern und immerhin gelegentlich auch mitfühlenden Polizisten.

In Putins Russland gibt es jetzt keinen Spielraum mehr für Protest

Während der Covid-Pandemie wird sie aufgrund neuer Gesetze verhaftet, die Proteste unter dem Vorwand der öffentlichen Gesundheit unter Strafe stellen. Danach bedarf der juristische Apparat schrillerer Stigmata, etwa des Vorwurfs, eine westliche Agentin, Terroristin und zugleich Faschistin zu sein. Auch wenn sich diese verzweifelte Überbietung gängiger Anklagepunkte komisch liest, steckt dahinter eine existenzielle Wut.

In Putins rückwärts galoppierendem „Imperium“ gibt es keinen Spielraum mehr für Protest. „Political Girl“ antwortet auf diese jüngste Eskalationsstufe mit Spott, Kunst und ausdauerndem Widerstand – nicht ohne den Preis zu erwähnen, der im Privaten zu entrichten ist, was das Buch vor Selbstglorifizierung bewahrt. Mut und Kritik sind bei Aljochina keine Pose in der demokratischen Komfortzone, sondern ein auch im Exil gefährliches Beharren auf Gehorsamsverweigerung gegenüber einer Diktatur, die auf den Krieg angewiesen ist.

„Wir können uns die Farbe unseres Passes nicht aussuchen“, schreibt sie am Ende. „Aber wir können uns aussuchen, wie wir unser Leben leben. Ob wir uns gegen das System, das aus Menschen Rädchen im Getriebe macht, zur Wehr setzen oder nicht.“

Maria Aljochina: „Political Girl“. Pussy Riot – Leben und Schicksal in Putins Russland. Aus dem Englischen von Nina Frey und Stephan Pauli. Berlin Verlag, Berlin 2025. 528 S., geb., 26,– €.

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