Der erste Satz gleicht einem Geständnis: „Ich wurde als erstes Kind eines Schauspielers und einer Schauspielerin geboren“, schreibt Dominik Graf in seinem Buch „Sein oder Spielen“. Seine Mutter war die Schweizerin Selma Urfer, die ihre Schauspielkarriere am Theater begann, sein Vater Robert Graf wurde zum Star des Nachkriegskinos der Bundesrepublik.
Was der Beruf der Eltern mit seinem eigenen Weg ins Filmgeschäft, mit seiner Arbeit als Regisseur zu tun hatte und wie er seinen Umgang mit anderen Schauspielern prägte, das erzählt Graf auf fast vierhundert Seiten, die zwischen Filmessay, Rückblick auf das eigene Werk und anekdotischem Einblick in Biographisches changieren. Der Ton, den er dabei anschlägt, gerät manchmal fast ins Plaudern, etwa wenn er das Spiel seines Vaters im Film „Das schöne Abenteuer“ von 1959 beschreibt: „Im Gegensatz zu seiner manchmal etwas holzschnittigen Darstellung des Bruno Tiches als ewiger Wendehals in den ‚Wunderkindern‘ ist mein Vater im ‚schönen Abenteuer‘ tatsächlich sehr fein“ und „ich muss es so platt sagen ... fast er selbst.“
Das Ungekünstelte muss hart erarbeitet werden
Dieses „fast er selbst“ wird wichtig für Graf. Denn – das ist eine der Thesen, die er in seinem Buch herausarbeitet – deutsche Schauspieler „spielen“ ihm meist zu viel, wohingegen Darsteller im amerikanischen, französischen oder italienischen Kino den Eindruck zu vermitteln wüssten, tatsächlich ihre Rollen „zu sein“.
Dominik Graf: „Sein oder Spielen“. Über Filmschauspielerei.C.H. BeckWie hart das Ungekünstelte vor der Kamera manchmal erarbeitet werden muss, lernte Graf selbst nicht gerade auf die sanfte Tour. Eines der ersten Kapitel ist mit „Patsch!“ überschrieben und erzählt, wie Graf als junger Schauspieler 1976 beim Dreh des Films „Der Mädchenkrieg“ vom Hauptdarsteller „vor laufender Kamera eine nicht abgesprochene, gewaltige Ohrfeige“ verpasst bekam. Sie riss ihn von den Füßen. Er war beleidigt, wollte schon seine Sachen packen. Im Nachhinein erklärt er, warum der Effekt dieser Schelle aus dramaturgischer Sicht notwendig war: „Mein überraschtes Hinfallen hätte man sonst nur durch einen Schnitt erzeugen können – und es wäre ein künstliches Hinfallen gewesen.“ Im Gegensatz zu den Filmen der Nachkriegsjahre standen die Produktionen der Sechziger- und Siebzigerjahre unter dem Motto, endlich „die ungeschminkte Wahrheit“ zu zeigen, schreibt Graf und führt diesen Gedanken etwa mit einem Blick auf die frühen Filme François Truffauts aus.
So entwickelt sich langsam eine Geschichte des europäischen Kinos, geprägt von persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen, die immer wieder einzelne Schauspieler in den Blick nimmt und deren Schaffen hinsichtlich der Frage „Spielen oder Sein“ abklopft. Den ganz großen Namen wie Isabelle Adjani oder James Dean widmet Graf eigene Kapitel. Götz George, den er als „letzten deutschen Superstar“ bezeichnet, bekommt auch eins. Mit ihm drehte Graf mehrfach. Besonders im Gedächtnis blieben Dreharbeiten in Duisburg für „Schimanski“. Vor einer Neubau-Wohnung harrten Fans stundenlang aus und jubelten, sobald sich die Silhouette des Stars der Fensterscheibe näherte.
Sein filmisches Werk hat einen Sonderstatus
Ganz offen, sogar mit Selbstironie, beschreibt Graf hier aber auch, wie er als junger Filmemacher mit dem Schauspieler aneinandergeriet. Er forderte ihn während einer Szene auf, die Position zu wechseln. George leuchtete das nicht ein, er argumentierte aus der Psychologie seiner Rolle heraus, warum der Wechsel keinen Sinn ergab.
Graf musste einräumen, dass er ihn allein aus technisch-ästhetischem Grund forderte: „Du gehst, weil ihr da jetzt schon lang genug so steht und weil das Bild besser aussieht, wenn du diese Position auslöst.“ George weigerte sich. Zwei Tage herrschte Funkstille zwischen Hauptdarsteller und Regisseur, dann versöhnten sich beide. Im Gegensatz zu ihm als Jungregisseur hatte George „kein Generationenproblem“, stellt Graf fest: „Er will sich nicht unterscheiden von irgendwas Vergangenem, das erst mal aus dem Weg zu räumen sei. Der Star will nur spüren, dass die Szene für ihn stimmt.“
Ganz subtil gibt Graf damit auch Hinweise, wie sein eigenes filmisches Werk den Sonderstatus unter den deutschen Autorenfilmern erhielt, den es heute hat, etwa wenn er über die Dialoge, die Sprache der Filme nachdenkt. „Glaubwürdigkeit“ oder „Authentizität“ habe es als Begriff zu seiner Anfangszeit noch nicht gegeben. Die jungen Filmemacher forderten, „realistisch“ zu sein, „alltäglich“, „so wie im Leben“. „Oder“, so Graf, „im Negativen ausgedrückt, wenn die Sätze zu sehr geschrieben erschienen: ‚So redet doch kein Mensch.‘“
Illustriert ist „Sein und Spiel“ mit Dutzenden Fotos, zum Teil privaten Aufnahmen aus dem Familienarchiv des Regisseurs, manche auch selbst aufgenommen bei Dreharbeiten, zum anderen Teil klassischen Filmstills jener Werke, die Graf exemplarisch beschreibt. Und weil es einem Filmemacher natürlich immer auch um Ästhetik geht, sind die Bilder allesamt schwarz-weiß gestaltet und mit einem Raster überzogen, das ihnen die Anmutung gibt, als hätte sie jemand von einem alten Röhrenfernseher abfotografiert. Gemeinsam mit Grafs scharfsinnigen Einblicken schüren sie bei der Lektüre den Wunsch, vieles, auch bekanntes, noch einmal neu zu sehen.
Dominik Graf: „Sein oder Spielen“. Über Filmschauspielerei. Verlag C. H. Beck, München 2025. 391 S., Abb., geb., 28,– €.

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