Belarus: Maria Kalesnikava, Ikone der Protestbewegung

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 System der Gewalt und Angst bekämpfen

Freigelassene Kalesnikava inmitten anderer Ex-Häftlinge im Bus Richtung Ukraine: System der Gewalt und Angst bekämpfen

Foto: AFP

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Als der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko 2020 seinen gesamten Sicherheitsapparat einsetzte, um die Massenproteste gegen sein Regime brutal niederzuschlagen, wurde Maria Kalesnikava zur Ikone der Protestbewegung.

Am 7. September jenes Jahres wurde die Oppositionelle von maskierten Sicherheitsbeamten von der Straße gezerrt und verhört. Die Beamten drohten, sie für Jahre ins Gefängnis zu bringen, zu töten, schließlich außer Landes zu bringen, »lebendig oder in Stücken«, wie Kalesnikava später über ihre Anwältin öffentlich machte. Doch Kalesnikava ließ sich nicht einschüchtern: Als Sicherheitsbeamte sie in ein Auto an die ukrainische Grenze brachten, zerriss sie ihren Pass, kletterte aus dem Wagen und lief zurück. So verhinderte sie ihre Zwangsabschiebung, gedacht als Vergeltungsmaßnahme für ihre Unbeugsamkeit.

Später, während des Schein-Prozesses, den ihr das belarussische Regime machte , lächelte und tanzte sie in einem Käfig im Gerichtssaal. Sie wurde unter anderem wegen »Verschwörung zur Machtergreifung« zu elf Jahren Haft verurteilt und später von Lukaschenkos Apparat auf eine Liste von »an terroristischen Aktivitäten Beteiligten« gesetzt.

Am Samstag wurde Kalesnikava nach 1808 Tagen – mehr als fünf Jahren – Haft freigelassen. Mit ihr kamen 122 weitere Menschen in Freiheit, die Lukaschenko als politische Gefangene einsperren lassen hatte. John Coale, der Sondergesandte von US-Präsident Donald Trump, hatte dies mit Lukaschenko ausgehandelt, wie die US-Botschaft in Litauens Hauptstadt Vilnius mitteilte. Videos  und Fotos , die das unabhängige belarussische Internetportal Zerkalo und die Menschenrechtsorganisation Viasna verbreiteten, zeigten Kalesnikava und andere Gefangene auf dem Weg in die Ukraine. Die Freigelassenen wurden in Reisebussen ausgefahren.

»Viva Maria«

Kalesnikava, heute 43 Jahre alt, ist ursprünglich Flötistin. Sie lebte und musizierte zwölf Jahre lang in Deutschland, bevor sie – wie sie selbst später sagte – auf auch für sie überraschende Weise in die Politik ging. Sie gehörte zu drei Frauen, die sich im Präsidentschaftswahlkampf 2020 zusammenschlossen, um gegen Lukaschenko anzutreten, nachdem männliche Kandidatenanwärter von der Wahl ausgeschlossen worden waren.

Die beiden anderen Frauen, Swetlana Tichanowskaja und Weronika Zepkalo, traten jeweils anstelle ihrer bekannten Ehemänner an. Kalesnikava sprang für den inhaftierten Banker Wiktor Babariko ein, für den sie zuvor Wahlkampf gemacht hatte. Die drei Frauen einigten sich darauf, Tichanowskaja als gemeinsame Kandidatin zu unterstützen.

 Männliche Kandidatenanwärter waren von der Wahl ausgeschlossen worden

Belarussische Oppositionspolitikerinnen Zepkalo, Tichanowskaja, Kalesnikava: Männliche Kandidatenanwärter waren von der Wahl ausgeschlossen worden

Foto: Vasily Fedosenko / REUTERS

Das Bild der drei – Tichanowskaja mit geballter Faust, Kalesnikava mit einem Herzzeichen und Zepkalo mit dem »V«-Zeichen für Victory – verbreitete sich rasch. Zehntausende Belarussinnen und Belarussen kamen zu ihren Kundgebungen im ganzen Land und überraschten damit Lukaschenko und seine Behörden, die die Frauen unterschätzt hatten.

In ihrer ersten politischen Rede nach der Verhaftung Babarikos wirkte Kalesnikava noch unsicher und verlor den Faden. Doch mit der Zeit gewann sie an Selbstbewusstsein und entwickelte sich zu einer leidenschaftlichen Rednerin. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters sagte sie einmal, sie trage manchmal eine dunkle Sonnenbrille, um ihre Tränen zu verbergen, wenn die Unterstützung der Menschen sie überwältige.

»Ja, das waren die schwersten Tage für mich, aber ich habe so meinen Willen gezeigt und mein Versprechen eingelöst, das System der Gewalt und Angst zu bekämpfen.«

Kalesnikava Ende 2022 aus der Haft in einem Brief an den SPIEGEL

Lukaschenko erklärte sich nach der Abstimmung mit vielen Unregelmäßigkeiten zum Sieger, die Opposition warf ihm Wahlfälschung vor. Tichanowskaja sagte, der Sieg sei ihr gestohlen worden. Westliche Regierungen unterstützten ihre Darstellung; sowohl die Europäische Union als auch die Vereinigten Staaten verkündeten, sie sähen Lukaschenko nicht als rechtmäßigen Präsidenten von Belarus an.

Daraufhin brachen landesweite prodemokratische Proteste aus, bei denen Tausende Menschen festgenommen wurden. Tichanowskaja wurde von Lukaschenkos Sicherheitsapparat zur Flucht gezwungen, auch Zepkalo und andere Oppositionelle flohen ins Exil – Kalesnikava aber schwor, im Land zu bleiben.

Nach ihrer Festnahme gingen erneut Demonstranten auf die Straße, riefen ihren Namen und trugen Plakate mit Aufschriften wie »Viva Maria«. Ein damals kursierender Witz lautete: »Belarussische Polizisten erschrecken sich abends am Lagerfeuer gegenseitig mit Geschichten über Maria Kalesnikava.«

Aus der Haft schrieb sie dem SPIEGEL  im November 2020: »Was ich getan habe, habe ich bisher keine Minute lang bereut. Ja, das waren die schwersten Tage für mich, aber ich habe so meinen Willen gezeigt und mein Versprechen eingelöst, das System der Gewalt und Angst zu bekämpfen. Ich konnte nicht gehen und meine Kollegen, Freunde und Familie alleinlassen.«

Während ihrer fünf Jahre und drei Monate im Gefängnis war Kalesnikava die meiste Zeit in Isolationshaft – überwiegend ohne Kontakt zu Familie oder Anwälten. Ende 2022 musste sie wegen eines Magengeschwürs und einer Bauchfellentzündung operiert werden . Später veröffentlichten Lukaschenkos Behörden Bilder der stark abgemagerten Kalesnikava.

Nach Angaben ihrer Familie und Unterstützer, die Informationen auch von entlassenen Gefangenen erhielten, verbrachte die Oppositionelle lange Zeit allein in einer winzigen, stinkenden Zelle, deren Toilette lediglich ein Loch im Boden war. Briefe an sie sollen vom Gefängnispersonal vor ihren Augen zerstört worden sein. Ihre Schwester Tatsiana Chomitsch sagte dem SPIEGEL 2024 , die Haftbedingungen kämen Folter gleich, sie und ihre Familie fürchteten um das Leben von Kalesnikava.

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