In grotesker Geschlossenheit stimmte das amerikanische Repräsentantenhaus vor drei Wochen für die Freigabe der Epstein-Akten: Mit 427 Jastimmen gegen eine Neinstimme verabschiedeten die Abgeordneten den „Epstein Files Transparency Act“, der das Justizministerium verpflichtet, bis zum kommenden Freitag alle „nicht klassifizierten Dokumente“ über Jeffrey Epstein und Ghislaine Maxwell zu veröffentlichen, also unter anderem: Ermittlungsakten, E-Mails, Unterlagen zu Epsteins Inhaftierung und Tod, Flugprotokolle seines Privatjets, inklusive der Passagierlisten, Zeugenbefragungen, Autopsieberichte und Listen aller Regierungsbeamten und Unternehmen, die mit ihm in Verbindung standen.
Woher kommt diese Einigkeit? Wie kann es sein, dass ein Land, das doch, wenn man den gängigsten politischen Analysen glaubt, so tief gespalten ist wie nie zuvor, nun bei der Aufarbeitung eines Kriminalfalls zusammenfindet, dessen Täter seit sechs Jahren tot ist? Wieso motiviert ausgerechnet ein Skandal, in den Politiker aus beiden Lagern verstrickt sind, die Parteien dazu, ihre ideologischen Gräben zu überbrücken und gemeinsam auf Transparenz zu drängen? Warum wurden die Akten nicht schon längst freigegeben, zum Beispiel in der Amtszeit von Joe Biden? Und warum passiert es jetzt?
Der Sound der Verschwörung
Man kann, wenn man solche Fragen stellt, mittlerweile selbst kaum den raunenden Ton vermeiden, der dabei mitschwingt. Längst sind die Epstein Files zur Chiffre für ein kategorisches Misstrauen in der Bevölkerung geworden, gegen den Staat, die Regierung, die offizielle Wahrheit. Sogar ein nüchternes Interesse an der sachlichen Aufklärung von Epsteins Verbrechen klingt daher nach dem Sound der Verschwörung. Dabei täuscht das klare Abstimmungsergebnis darüber hinweg, dass der Ruf nach der Freigabe der Akten völlig unterschiedliche Motive hat: Sicher gibt es angesichts der vielen offenen Fragen ein legitimes Bedürfnis nach Aufarbeitung, nach Informationen über Mitwisser und Mittäter, politische und finanzielle Verbindungen, vor allem vonseiten der Opfer.
Aber dass sich die Republikaner nun derart geschlossen dem Antrag der Demokraten angeschlossen haben, liegt nicht daran, dass die Partei ein feministischer vibe shift ergriffen hätte. Und umgekehrt reicht es selbst jenen, denen es um konkrete Antworten geht, nicht mehr, dass die Ermittlung wieder aufgenommen oder ein überparteilicher Untersuchungsausschuss eingesetzt wird. Auch sie halten die Offenlegung aller Akten für das einzige Mittel gegen eine offizielle Vertuschung, auch wenn überhaupt nicht klar ist, wie diese kriminalistisch weiterhelfen könnte.
Der politische Treibstoff hinter der Forderung nach Transparenz ist ein allgemeiner Zweifel an den demokratischen Institutionen selbst, der aus dem Abseits des Diskurses ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung gedrungen ist, ein erstaunlich mehrheitsfähiger Verdacht, dass die Akten Aufschluss über geheime Machenschaften und Zusammenhänge der Weltordnung geben, Antworten auf Missstände weit jenseits des konkreten Falls. In den vergangenen Monaten sprachen sich in Umfragen zwischen 70 und 84 Prozent der Amerikaner dafür aus, sämtliche Unterlagen zu Epstein zu veröffentlichen.
Laut einer Umfrage von Yahoo/Yougov sind 69 Prozent der Ansicht, die Regierung würde Informationen verheimlichen, 48 Prozent glauben, „viele Spitzenpolitiker“ seien in pädophile Netzwerke verwickelt, 47 Prozent glauben, Epstein sei ermordet worden, 46 Prozent denken, es gebe eine einzelne Gruppe von Leuten, die „im Geheimen die Ereignisse kontrollieren und die Welt beherrschen“ – und zwar unabhängig davon, wer „offiziell“ in der Regierung sitzt. Trotz aller Zweifel, die im konkreten Fall angebracht sind, hat dieses generelle Misstrauen eine neue Dimension. Das ist kein drolliges Unbehagen von ein paar Spinnern mehr, die die Mondlandung infrage stellen oder den 11. September für eine Aktion der CIA halten. Das ist eine politische Erschütterung.
QAnon für die Mitte der Gesellschaft
Längst ist dieses fundamentale Misstrauen auch jenseits der MAGA-Bewegung zu finden; dort aber hat es sich zu einer elementaren Mythologie entwickelt, die nun sogar die Figur bedroht, die darin eigentlich als Erlöser vorgesehen war. Das Versprechen, die Epstein-Akten freizugeben, war eine zentrale Parole des Wahlkampfs von Donald Trump, die Quintessenz seiner Strategie, sich als Kämpfer gegen das Establishment zu inszenieren, den „Sumpf auszutrocknen“, den „Deep State“ zu zerstören. Für viele MAGA-Fanatiker wurden Epsteins Verbrechen zum Katalysator der bizarren Theorien von Pizzagate und QAnon, jenes Märchens über einen geheimen Kinderpornoring um Hillary Clinton. Sie erlauben nun auch Menschen in der Mitte der Gesellschaft, eine Verschwörung der Eliten zu vermuten, ohne den Unsinn unterschreiben zu müssen, dass diese in Schweizer Tunneln eine Droge aus Kinderblut trinken. Genau darin aber liegt die Gefahr: Nicht der abseitige Glaube an außerirdische, reptiloide Vampire bedroht die Demokratie, sondern das allgemeine Raunen darüber, dass ein gemeines Komplott mächtiger Strippenzieher die Politik bestimmt.
Die republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor Greene auf einer Pressekonferenz zum „Epstein Files Transparency Act“ in Washington im SeptemberEric Lee/The NewYorkTimes/Redux/LaifSpätestens seit der verlorenen Wahl 2020 hat Trump diesen konspirativen Verdacht zu einem wesentlichen Instrument seiner Rhetorik gemacht, zu einem Gift, das die Legitimität politischer Verfahren grundsätzlich infrage stellte. Den Wahlsieg von Joe Biden erklärte er zur „Big Lie“, die Frage, ob man an die Lüge von der gestohlenen Wahl glaubt, wurde zu einer Art Loyalitätstest für republikanische Politiker. Seine Anhänger forderte Trump auf, das Recht selbst in die Hand zu nehmen – die wichtigste Devise jeder verschwörungstheoretischen Praxis: Glaubt niemandem, informiert euch selbst – oder wie damals Marjorie Taylor Greene, die überzeugteste QAnon-Anhängerin im Parlament, sagte: „Google it!“
Ob Trump nun selbst der mysteriöse „Q“ ist, der angebliche Insider aus den Reihen der US-Regierung, oder nicht: Lange galt er, im buchstäblichen oder im übertragenen Sinn, als der Messias, der den „Sturm“ bringen würde, jenen Moment, in dem endlich die Wahrheit ans Licht kommen würde, das „große Erwachen“. Die Epstein Files, vor allem eine angebliche „Kundenliste“, wurden zum Heiligen Gral dieses paranoiden Begehrens, zur vermeintlichen „smoking gun“, dem zentralen Beweisstück für eine groß angelegte Verschwörung.
Trump wird zum Opfer seiner Methoden
Seit Beginn seiner zweiten Amtszeit aber ist Trumps Taktik ins Schleudern gekommen. Schon der Sieg von Joe Biden 2020 hatte die QAnon-Anhänger verwirrt und gezwungen, die Interpretation ihrer Prophezeiung anzupassen: Einige fielen vom Glauben ab, andere hielten Trumps Niederlage für den Teil eines größeren Plans oder glaubten, er wäre hinter den Kulissen weiter der wahre Präsident, wieder andere stürzten sich auf die verrücktesten Wahlbetrugslegenden. Dass Trump aber nach seiner Wiederwahl plötzlich sein Versprechen, die Epstein Files zu veröffentlichen, vergaß, ihre Bedeutung herunterspielte, die ganze Sache einen Schwindel und jene, die daran glaubten, „Schwächlinge“ nannte, führte zu Rissen zwischen ihm und der MAGA-Bewegung. Plötzlich lief Trump Gefahr, Opfer seiner eigenen Methoden zu werden: Dass er sich weigert, die Wahrheit aufzudecken, kann in der Logik seiner von der Verschwörung überzeugten Anhänger nur bedeuten, dass er selbst Teil der Verschwörung ist. Der „Deep State“ muss doch tiefer sein, als man sich vorstellen kann.
Es war dieses unüberwindbare Misstrauen, das die republikanischen Abgeordneten nun dazu brachte, für die Veröffentlichung zu stimmen. Der Druck ihrer Wähler war so groß, dass sie es wohl auch gegen den Willen des Präsidenten getan hätten. Daher konnte Trump einen offenen Konflikt nur verhindern, indem er erneut seine Position änderte. Nur sein Ruf, verlässlich erratische Entscheidungen zu treffen, hilft ihm, diese neue Wende zu relativieren. Sie deutet aber auf ein grundsätzliches Problem hin: Als Mann an der Spitze der Macht funktioniert die Strategie, das Handeln der Mächtigen als ein einziges Komplott darzustellen, nicht mehr. Zwar greift Trump immer noch routinemäßig auf die Waffe bizarrer Desinformation zurück: Biden hat 100 Millionen Dollar für Kondome in Gaza verschwendet, Tylenol verursacht Autismus, Ilhan Omar hat ihren Bruder geheiratet. Ein ganzes Ökosystem rechter Alternativmedien lebt heute von der Produktion und Verbreitung solchen Bullshits. Aber als Verschwörungstheoretiker-in-chief muss Trump eben immer auch damit rechnen, dass solche Lügen von jenen hinterfragt werden, die ihm ins Amt geholfen haben.
Ist die Verschwörung plötzlich doch real?
Wenn sich nun aber die Zweifel gegen den Mann richten, der wie kein anderer dazu beigetragen hat, sie als üblichen Modus der politischen Kultur zu etablieren, dann ist das eine neue Pointe der Dynamik solcher Verschwörungsnarrative. Es fällt zunehmend schwerer, sie nur für Phantasien irrationaler Fanatiker zu halten. Sie haben ja in vielen Punkten recht: Hinter der aktuellen amerikanischen Regierung wirken mächtige Wirtschaftslobbys, das Justizsystem bevorteilt strukturell die Reichen – und ganz offensichtlich gab es ein pädophiles Netzwerk einflussreicher Männer. Selbst die These vom Selbstmord Epsteins halten einige seriöse Beobachter für äußerst unglaubwürdig. All das bedeutet nicht, dass auch das große Ganze ein Komplott ist. Aber es erleichtert nicht das Unterfangen, die legitimen Zweifel von den paranoiden zu unterscheiden.
Vogelperspektive auf Pool und Häuser von Little St. James, der Privatinsel, die Jeffrey Epstein gehörteReuters/Marco BelloFür die rechtspopulistischen Bewegungen, die heute die liberalen westlichen Demokratien bedrohen, sind Verschwörungstheorien ein unverzichtbares Mittel. Aber es ist ein schmaler Grat zwischen dem Geraune von „denen da oben“ und berechtigter Machtkritik. Spätestens seit der Corona-Pandemie klingen auch die Parolen dissidenter Querdenker wie Imitationen der Aufrufe sozialer Bewegungen: für Frieden und Meinungsfreiheit, gegen Überwachung und den globalen Kapitalismus. Der wesentliche Unterschied ist, dass der Zweifel der Verschwörungsgläubigen selbst eher frei von Zweifeln ist: Sie glauben in der Regel sehr genau zu wissen, was wahr ist.
Eine Nation gegründet auf einer Verschwörungstheorie
Am Ende kommt es gar nicht unbedingt auf diesen Unterschied an: Ob Verschwörungstheorien die Demokratie gefährden, darauf hat kürzlich auch der Amerikanist Michael Butter hingewiesen, hängt nämlich vom Zustand der Demokratie ab. Verschwörungstheorien seien „nicht per se antidemokratisch oder extremistisch“, schreibt Butter in seinem Buch „Die Alarmierten“. Gerade in „‚unvollständigen‘ Demokratien“ könnten sie auch „ein Motor der Demokratisierung“ sein. In den Vereinigten Staaten seien sie „wiederholt ein Katalysator für Demokratisierungsprozesse“ gewesen, wenn nicht sogar konstitutiv für die Nation: Die Rebellion gegen die britische Krone wurde ausgelöst durch „die weit verbreitete Vorstellung, King George III. und seine Minister hätten sich gegen die amerikanischen Kolonien verschworen“.
Für Butter sind Verschwörungstheorien an sich also keine Gefahr für die Demokratie, sondern ein Symptom der Krise – wie umgekehrt auch der alarmistische Diskurs darüber: „Die übertriebene Furcht vor Verschwörungstheorien ist genauso ein Symptom für Ängste, wie es der konspirationistische Diskurs selbst ist“, schreibt er. Diese Ängste, meint Butter, seien Folge einer aufrichtigen Sorge um den Zustand der Demokratie, Ausdruck eines „erlebten Kontrollverlusts“, die eher „den Blick auf die Ursachen dieses Gefühls lenken“ sollten, etwa auf „soziale Ungleichheit, prekäre Lebensverhältnisse, wachsende Distanz zu staatlichen Institutionen, Zukunftsängste, Vereinsamung und ähnliche Erfahrungen“.
Je mehr sich die Vereinigten Staaten unter Trump zu einem autoritären System entwickeln, desto berechtigter wird daher auch das Misstrauen in seine Regierung. Sosehr seine Anhänger auch weiterhin die undemokratischen Maßnahmen seiner Politik unterstützen – die harten Abschiebungen, den Abbau des Sozialstaats oder des Beamtenapparats –, so sehr äußert sich ihre Unzufriedenheit in der Hoffnung auf eine Enthüllung, die endlich eine vermeintliche Ursache ihrer realen Nöte ausräumt: das Netzwerk konspirativer Akteure, den geheimen Plan, der hinter allen Übeln steckt.
Auch die Offenlegung der Akten zum Fall Epstein wird daran nichts ändern, weil sie immer Raum für Restzweifel lassen wird: Schon seit Monaten ist das FBI fleißig dabei, die Dokumente für die Freigabe zu bearbeiten, auch Trumps Name soll darin geschwärzt worden sein. Ob das stimmt, spielt kaum eine Rolle, allein der Verdacht reicht aus. Die Epstein Files werden wohl für immer Anlass für neue Verschwörungstheorien geben. Julie K. Brown, die investigative Journalistin des „Miami Herald“, deren Recherchen zu Epsteins Verhaftung führten, sagte kürzlich in einem Interview: „Das wird wie das Attentat auf JFK. Wenn Sie und ich schon lange nicht mehr da sind, wird es noch Leute geben, die sich das anschauen und darüber schreiben werden.“
Donald Trump aber gerät immer tiefer in ein Dilemma: Entweder taucht sein Name in den Akten auf. Oder er ist erst recht verdächtig.

vor 2 Tage
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