Das Nibelungenlied für alle: Der Held ist mutig wie zehn Löwen und klug wie zwei Esel

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Als der Dichter und Düsseldorfer Landgerichtsrat Karl Immermann den mittelhochdeutschen „Tristan“-Roman des Gottfried von Straßburg für sich entdeckt, kann er sein Glück kaum fassen. Seinem Bruder Ferdinand schreibt er 1831, mit welchem „Entzücken“ er den Text lese und dass er nun vorhabe, „dieses Gedicht in neuer künstlerischer Form aufzuerwecken, und zwar so, dass nur der Stoff Gottfried von Straßburg, die Behandlung aber mir angehören möchte.“ Es dauert noch einige Jahre, bevor er Ende 1837 darangeht, einen ei­genen „Tristan“ zu schreiben, der leider durch Immermanns Tod 1840 Fragment geblieben ist.

Der Impuls dafür ist nicht nur der großen Begeisterung Immermanns für das damals schon mehr als sechs Jahrhunderte alte Werk geschuldet. Der moderne Autor sieht sich auch in der Pflicht gegenüber dem Lesepublikum, er hat nun eine Mission, schreibt er seinem Bruder: „Jammerschade, dass so prächtige Sachen un­ter den Gelehrten vermodern! Man muss sie dem Volke schenken!“

Der Brief wirft einige Fragen auf: Wen meint Immermann, wenn er von dem „Volke“ spricht – alle? Die einfache Be­völkerung in Abgrenzung zum Adel? Das Lesepublikum? Und, daran anknüpfend: Stimmt die Vermutung überhaupt, dass der „Tristan“-Stoff und ähnliche um 1830 nur den Fachleuten bekannt waren, bei de­nen sie geradezu „vermodern“ mussten, weil sie keine breitere Wirkung entfalteten? Vor allem aber: Welche Art von Popularisierung könnte dem großen Vergessen entgegenwirken?

Was macht der Hort der Nibelungen in den Alpen?

All das wurde schon dreißig Jahre vor Immermanns Begeisterungsbrief diskutiert, unter gänzlich anderen Vorzeichen. Denn während Immermann für seine Tristan-Lektüre auf die Edition Eberhard von Grootes (1821) oder Friedrich Heinrich von der Hagens (1823) zurückgreifen konnte, wurden die Grundsteine für die moderne Rezeption vieler mittelhochdeutscher Werke bereits in der Zeit um die Wende zum neunzehnten Jahrhundert gelegt. Auf erste Textausgaben, die vor 1800 erschienen waren und bekanntlich in Preußen auf allerhöchste Ablehnung stießen – „keinen Schuss Pulver wert“ fand Friedrich II. das ihm überreichte Exemplar des 1782 von Christoph Heinrich Myller edierten Nibelungenlieds –, folgten in der Romantik weitere Ausgaben und eine breite Rezeption. Künstler wie Johann Heinrich Füssli schufen eigene, ästhetisch recht unbesorgt um historische Plausibi­lität entworfene Illustrationen zu mittelalterlichen Werken wie dem Nibelungenlied, das bei Füssli von antikisierenden Ge­stalten bevölkert ist. Übersetzungen und Nachdichtungen entstanden, die mitunter von großer Unabhängigkeit von den Vorlagen gezeichnet waren.

Schon die Autorin Benedikte Naubert hatte 1792 in ihren anonym erschienenen „Neuen Volksmärchen der Deutschen“ ei­nen beherzten Verschnitt aus dem mittelalterlichen Sagenkreis um Laurins alpinen Rosengarten und dem Nibelungenlied geschaffen, mit einer durch die Verlockungen der Magie verdorbenen Kriemhild; ein­gekleidet ist das alles in eine zeitübliche Schauergeschichte um zwei Soldaten, die eine Ruine bewachen, in deren Katakomben sich der Nibelungenhort befinden soll. Bald nach 1800 greifen Dichter wie Friedrich de la Motte Fouqué Motive aus der Literatur des deutschen, aber auch des nor­dischen Mittelalters auf – Fouqué, ein Protegé August Wilhelm Schlegels, wird schlagartig berühmt mit seiner dramatischen „Sigurd“- Trilogie unter dem Gesamttitel „Der Held des Nordens“, deren Titelfigur später Heinrich Heine bescheinigt, Sigurd habe „so viel Mut wie hundert Löwen und so viel Verstand wie zwei Esel“.

Natürlich ist diese Rezeption nicht auf das Nibelungenlied beschränkt, auch wenn es sich als besonders populär erweist. In der Vorrede zu seiner Ausgabe von mittelalterlicher Lyrik, die 1803 unter dem Titel „Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter“ erscheint, schreibt Ludwig Tieck, dass seine Gegenwart den Relikten des Mittelalter neuerdings mit ei­nem Interesse begegnet, das kurz zuvor noch vollständig fehlte. Zum grundsätzlichen Interesse aber, schreibt Tieck, kommt auch die Würdigung, „nicht nur mit einseitigem und verblendeten Eifer“, sondern als „ein höheres Streben“, das sich bemühe, „jeden Geist auf seine ihm eigene Art zu verstehn und zu fassen“.

Ludwig TieckLudwig TieckPicture Alliance

Das ist von Optimismus diktiert, und besonders die Frage, wie groß Bereitschaft und Vermögen im Lesepublikum sind, sich auf die mittelhochdeutschen Texte einzulassen, die ihm meist in bearbeiteter Form angeboten werden, wird man so leicht nicht beantworten können.

Die allgemeine Mittelalterbegeisterung der Zeit um 1800 nennt der Germanist Roger Paulin „romantisiert und poetisiert“. Abzulesen ist das etwa dem Buchmarkt, der damals noch wesentlich über den Vertrieb der Leihbibliotheken strukturiert ist und zahlreiche Werke im pseudohistorischen mittelalterlichen Dekor bereithält. Ein eifriger Kunde einer solchen Einrichtung war beispielsweise der junge Jacob Grimm, der nach seiner Schulzeit in Kassel für wenige Jahre die Marburger Universität besuchte. In Briefen an den Schulfreund Paul Wigand zählt er auf, welche Titel er dort gelesen hat: Carl Gottlob Cramers im 12. Jahrhundert angesiedelter Roman „Hasper a Spada“ ist darunter, Veit Webers Ritterroman „Heidenröslein“ und viele andere, sodass der Siebzehnjährige mit etwas blasierter Kennerschaft auftrumpfen kann – über ein Lesedrama von Cramer urteilt er, es sei „ganz gut für den, der noch wenig Ritterromane gelesen hat, so aber sind die Sachen darin alle schon bekannt“. Dabei bleibt auch die Hochliteratur nicht unge­tadelt: Jean Pauls „Siebenkäs“ findet der junge Grimm insgesamt „langweilig“.

Offenbar ist es die Begegnung mit dem nur wenig älteren charismatischen Hochschullehrer Friedrich Carl von Savigny, die Jacob Grimms Lesewut in eine Richtung lenkt, die eher den authentischen Relikten mittelalterlicher Literatur gilt; sein Bruder Wilhelm, der ein Jahr nach ihm in Marburg ankommt, folgt ihm darin. Beiden Brüdern geht es nun um die Kenntnis, Sichtung und oft genug auch Edition solcher literarischen Zeugnisse einer untergegangenen Zeit. Zudem registrieren sie aufmerksam, was andere in dieser Hinsicht unternehmen.

Zum Beispiel Friedrich Heinrich von der Hagen, geboren 1780 im uckermärkischen Ort Angermünde als unehelicher Sohn eines Gutsbesitzers. Er gab 1807 eine Version des Nibelungenliedes heraus, 1814 einen Teil der Edda, 1820 eine Sammlung mittelhochdeutscher Heldenepen, 1825 eine deutsche Übersetzung von „Tausendundeine Nacht“ und 1838 ei­ne Auswahl von mittelhochdeutscher Lyrik – seine rastlose Arbeit brachte ihm während seiner Zeit als Professor in Breslau einen Ruf an die Berliner Universität ein, dem er 1824 folgte.

Mit den Brüdern Grimm lieferte er sich eine jahrelange, öffentlich ausgetragene Fehde, die der Germanist Lothar Bluhm in einem Aufsatz als einen „Wissenschaftskrieg“ untersucht hat. Die Beteiligten konkurrieren dabei etwa darum, als Erster bestimmte Lieder der Edda herauszugeben. Von der Hagen liegt dabei vorn, während Jacob Grimm dessen Arbeit dann in einer Rezension zerpflückt und auch insinuiert, dass sich der Konkurrent bei der Beschaffung der isländischen Vorlage unredlicher Methoden bedient hätte.

Jacob (links) und Wilhelm GrimmJacob (links) und Wilhelm Grimmpicture alliance / Heritage Imag

Bereits vor diesem Streit hatte Jacob Grimm an von der Hagens erste Nibelungenlied-Edition eine grundsätzliche Frage gerichtet, die weit über den konkreten Fall hinausweist, gerade weil sie in eine Aufbruchszeit fällt, in der Grundlagen der wissenschaftlichen Germanistik gelegt werden. Grimm skizziert die moderne Rezeption und Edition des Nibelungenlieds, kritisiert Bodmer und Myller für ihre mangelnde Quellenkritik und kommt dann auf von der Hagen zu sprechen. Der ziele mit seiner Ausgabe auf keine Übersetzung, sondern auf eine „Accomodation“. Was das heißen solle, erklärt Grimm so: „Die alten Formen werden mit neuen verständlichern vertauscht.“ Das trifft die Sache, wobei das, was jeweils als „verständlicher“ zum Original hinzukommt, durch den ständigen Sprachwandel naturgemäß immer neu definiert werden muss.

In der Nibelungenlied-Fassung von der Hagens liest sich das so:

„Zu Wormes bei dem Rheine sie wohnten mit ihrer Kraft;
Ihn’n diente von ihren Landen viel stolze Ritterschaft,
Mit lobelichen Ehren, bis an ihr’ Endes Zeit:
Seit sturben sie jämmerliche von zweier edelen Frauen Neid.“

Das Mittelhochdeutsche lebt noch immer

Nicht Fisch noch Fleisch: Das mittelalterliche Werk erscheint hier in einer Sprache, die es nie gegeben hat, weder um 1200, als das Werk entstand, noch sechshundert Jahre später, als von der Hagen eine Ausgabe für seine Zeitgenossen schuf.

Dass man seine Zweifel an dieser Praxis haben kann, teilt sich sofort mit, und Jacob Grimm findet dafür klare Worte. In der Frage, ob und wie mittelhochdeutsche Texte an moderne Leser gebracht werden könnten und sollten, ist seine Haltung eindeutig: Das Mittelhochdeutsche, schreibt er aus der Warte des Jahres 1807, sei nicht tot, es sei eigentlich „unsere jetzt noch lebende Sprache, die wir ohne große Mühe verstehen“. Denn das Neuhochdeutsche sei allenfalls weiter ausgebildet, schreibt Grimm, der deshalb umgekehrt im Nibelungenlied etwas geradezu „Kindliches“ wahrnimmt. Der Charakter dieser Dichtung sei „die höchste Naivetät“, ihr Ausdruck unbewusst „aus der innersten Notwendigkeit“ hervorgegangen, kurz: ein Werk, „dessen zarter Anhauch von der leisesten Berührung verletzt wird“.

Wenn der Leser einfach zu faul ist

Das heißt aber auch, dass eine Übersetzung ins Neuhochdeutsche nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich wäre, weil dabei der „höchste Reiz“ einer solchen Dichtung verloren ginge. Offenbar geht in Grimms Vorstellung die Kindlichkeit und Naivität der „kindlichen“ Sprache des Nibelungenlieds gut mit den Strömen von Blut zusammen, durch die seine Protagonisten waten, mit den überallhin rollenden abgeschlagenen Köpfen und der Feuersbrunst, in der schließlich der Schauplatz des finalen Kampfes am Hof des Hunnenkönigs untergeht.

Gegen eine „Accomodation“ spreche aber nicht nur, dass sie kaum mit letzter Konsequenz durchgeführt werden könne, weil zwischen den alten und den implantierten neuen Ausdrücken notwendig ein „zerstörender Contrast“ entstehe. Man müsse sich auch fragen, wozu der ganze Aufwand eigentlich gut sei. „Am Ende“ hätte man nur „denen, die zu träg waren, das Original zu lesen, einige Mühe erspart“. In der Frage, ob sich der Leser um das Buch oder das Buch um den Leser bemühen solle, ist Grimms Haltung ein­deutig – immer unter der Voraussetzung, dass sich das Mittelhochdeutsche aufgrund der Verwandtschaft mit dem Neuhochdeutschen intuitiv erschließe, was zumindest heutiger Erfahrung widerspricht, nicht zuletzt wegen der Gefahr, allzu unbedarft lautliche Entsprechungen wie etwa „Milte“ und „Milde“ als inhaltlich identisch aufzufassen.

Immermanns späteres Bemühen, „dem Volke“ einen neuen Tristan zu schenken, mutet den Empfängern dann auch nicht viel Arbeit zu. Bis heute ist dieser Weg zur Popularisierung mittelalterlicher Stoffe durchaus beliebt, auch wenn sich mittlerweile ein anderer durchgesetzt hat, der weniger die Stoffe als einzelne Motive in den Blick nimmt und darum neue Geschichten spinnt. Der Mediävistik aber bringe die Beliebtheit von Serien wie „Game of Thrones“ eine unerwartete Zahl von Interessenten ein, berichten Universitätsangehörige. Dann, sagen sie, beginne die Arbeit erst. Auf beiden Seiten.

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