Cembalist Benjamin Alard: Sechzig Stunden Bach als Lebensaufgabe

vor 2 Tage 8

Der französische Organist und Cembalist Benjamin Alard hat sich etwas Gewaltiges vorgenommen: Er will das Gesamtwerk für Tasteninstrumente von Johann Sebastian Bach für Harmonia Mundi aufnehmen. Die Reihe begann 2018 mit Frühwerken der Jahre 1699 bis 1705. Wir befragten ihn in Berlin zum Stand des Vorhabens.

Herr Alard, „Johann Sebastian Bach – The Complete Works for Keyboard“ klingt bei der schieren Menge seiner Tastenwerke monumental, aber auch so, als müsse es bei einem Komponisten seiner Popularität und nach über 100 Jahren Tonträgerentwicklung schon allerlei in dieser Richtung geben?

„Allerlei“ ist vielleicht sogar untertrieben. Es gibt ja einfach keinen professionellen oder auch nur halbprofessionellen Organisten oder Pianisten, der nicht irgendwelche Bach-Werke im Programm hat; die Zahl der Aufnahmen beispielsweise des „Wohltemperierten Klaviers“ geht sicher ins satt Dreistellige . . .

. . . und es gibt sowohl etliche komplette Orgelzyklen als auch solche für die kleineren Tasteninstrumente, aber scheinbar bisher nie beides aus einer Hand, wie Sie das vorhaben?

Ehrlich gesagt: Ich weiß es einfach nicht, ob da Vorgängerprojekte existieren oder zumindest irgendwann begonnen worden sind. Helmut Walcha, Gustav Leonhardt oder Ton Koopman beispielsweise: Das waren und sind ja alles Kollegen, die beide Instrumentengruppen bespielt und auch Aufnahmen vorgelegt haben, aber vielleicht nicht mit der Absicht einer lückenlosen Präsentation in einheitlicher Aufmachung. Es kann ja sein, dass gerade mit der Flut einzelner Einspielungen auch der Zug ins Enzyklopädische gewachsen ist, um dieses Gebirge größerer und kleinerer Kompositionen irgendwann einmal vollständig und übersichtlich vorliegen zu haben.

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Und wann könnte dieser Zeitpunkt bei Ihrer Serie kommen?

Wir haben vor knapp acht Jahren begonnen und sind jetzt bei der elften Kassette; in den meisten liegen drei CDs, ausnahmsweise auch zwei oder vier. Es wird am Ende wohl auf das Ende dieses Jahrzehnts bei 17 oder 18 Folgen hinauslaufen. Wir – ich spreche da vor allem von meinem Produzenten und Aufnahmeleiter Alban Moraud und mir – lassen bewusst noch einiges frei, weil es immer wieder neue Erkenntnisse aus der Forschung gibt und wir uns außerdem die Möglichkeit offenhalten wollen, Werke aus dem Umfeld oder, wo das naheliegt, Vokalstimmen und korrespondierende Instrumente einzubeziehen; also enzy­klo­pädisch, aber nicht puritanisch zu denken. Doch der Scheitelpunkt unseres Unternehmens ist inzwischen jedenfalls überschritten.

Analog zum Scheitelpunkt von Bachs Schaffensbiographie in den Köthener Jahren, denen Sie sich in den letzten Folgen gewidmet haben. Sie werden also sozusagen – wenn auch im Zeitraffer – gemeinsam mit Bach älter, was man auch auf den Coverfotos sieht.

Die Entscheidung, das ganze Projekt chronologisch aufzubauen, war zwar naheliegend, aber nicht die einzig mögliche. Wichtig schien mir, beim geordneten Hören Bachs Entwicklungen nachfühlen zu können. Aber das sind keine geradlinigen Wege vom Niedrigen oder Unreiferen zum Höheren – und außerdem nicht nur diejenigen Bachs, sondern auch meine eigenen als sein Interpret. Die Goldberg-Variationen zum Beispiel habe ich in meiner bisherigen Laufbahn manchmal zwei Jahre gar nicht, dann aber wieder in sehr dichter Folge gespielt, teils auf dem Cembalo, teils auf der Orgel – und nun nähert sich irgendwann der Zeitpunkt, wo ich sie auch in dieses Großprojekt integrieren werde in einer vielleicht wieder abgewandelten Variante, auf die ich aktuell selbst noch gespannt bin. Lebendige Aufnahmen schließen für mich die Akzeptanz ein, dass ein Stück fünf Jahre später schon wieder ganz anders angegangen werden und dann auch entsprechend anders klingen kann.

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Was dann womöglich auch für das Repertoire Ihrer ersten Aufnahmen für diese Gesamtkollektion gelten würde?

Ja, das ist so. Jedes Wiederhören einer früheren, aber auch jede neue Interpretation können Schritte einer Weiterentwicklung und gleichzeitig eines Abstand-Gewinnens sein, sodass man einem Werk nach einiger Zeit wieder so begegnen kann, als wäre es einem ganz neu. Fixiert sind Momentaufnahmen: genau durchdachte, maximal engagierte, das versteht sich – aber trotzdem nur Dokumentationen eines bestimmten Stadiums.

Das klingt nach einer Art Dilemma, gerade bei einem so anspruchsvollen und sozusagen musterprägenden Projekt wie dieser Gesamtaufnahme mit vielleicht 60 Stunden Musik. Am Ende könnte man wieder von vorn beginnen?

Genau. Was ich aber versuche und vielleicht im Laufe der bisherigen Einspielungen besser gelernt habe, ist, in diese kristallisierten Momentaufnahmen möglichst viel von der Spannung und Spontaneität eines Livekonzertes einzubringen, nicht nett, korrekt und defensiv zu spielen, sondern mit dieser oft an Grenzen rührenden, auch riskanten Intensität einer unmittelbaren Begegnung mit dem Publikum.

Wären dann nicht direkte Livemitschnitte ein möglicher Weg?

Überlegt haben wir das, und ich will es für das noch Bevorstehende nicht völlig ausschließen. Aber es geht natürlich, trotz unserer auch bisher sehr verschiedenen Aufnahmeräume und -instrumente, um so etwas wie ein homogenes Klangdesign und zudem um Fragen der Finanz- und Terminplanung – und ob dann eine Live-Einspielung nur in meinem subjektiven Empfinden oder tatsächlich auch für die Hörer wirklich besser wäre, wüssten wir trotzdem erst hinterher. Wir haben uns 2018 mit ziemlicher Intensität und ohne langen Vorlauf in dieses Projekt gestürzt, dann hat noch Corona Bremsklötze in den Weg geworfen; jetzt haben wir die Chance, es ruhig und souverän zu Ende wachsen zu lassen und dabei, wenn es gut läuft, selbst weiter mitzuwachsen.

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Was, wie es scheint, für Sie immer mit der Offenheit für Experimente verbunden ist. Sie haben zum Beispiel den ersten Teil des „Wohltemperierten Klaviers“ (WK) nicht nur in einer anderen als der gewohnten Reihenfolge des Bach-Werkeverzeichnisses eingespielt, sondern außerdem auch auf einem dreimanualigen Cembalo, das mit seinen fünf Saitenbezügen und sechs Registern über so viele Klangkombinationen verfügt wie kein anderes aus der Bachzeit überliefertes Instrument . . .

. . . und dessen Existenz mir noch vor wenigen Jahren selbst unvorstellbar war. Da gab es einen Tipp, dass dieses Instrument, das nach 1900 schon von Wanda Landowska „begrüßt“ worden war, mittlerweile über eine englische Privatsammlung nach Provins – einem Zwölftausend-Einwohner-Städtchen östlich von Paris – gelangt sei; und dort haben wir es tatsächlich gefunden und dann direkt vor Ort die Aufnahme gemacht. Es ist, 1740 in Hamburg von Hieronymus Albrecht Hass gebaut und wahrscheinlich für jene spanische Königin bestimmt, deren Tastenlehrer Domenico Scarlatti war, eine wirklich „königliche“ Arbeit, die in ihrem Farbenreichtum näher an einer Orgel als am vertrauten Cembalo-Sound liegt. Mit solchen neuen instrumentalen Erfahrungen wird man auch gegenüber den Kompositionen selbst wieder freier – und das wiederum hat die Entscheidung erleichtert, nach dem einleitenden C-Dur-Paar (BWV 846) nicht mit c-Moll fortzufahren, sondern einen anderen Weg zu verfolgen, der über Terzverwandtschaften und Subdominant-Beziehungen läuft: C, F, d, G, e, A – das sind die ersten sechs Präludien und Fugen in meiner Einspielung, und vielleicht entdecken auch manche Hörer der CD in solch einer Folge neue, reizvolle tonale Beziehungen. Dazu beitragen könnte, dass ich meine Instrumente selbst stimme mit dem Ziel, wirklich unterschiedliche Tonartencharaktere zu erhalten, was ja sozusagen den gedanklichen Kern des „Wohltemperierten Klaviers“ darstellt – weil eben „wohltemperiert“ in meinem Begreifen heißt, dass zwar alle Tonarten spielbar, aber deswegen trotzdem nicht alle Intervalle in einem mathematischen Sinn exakt gleich groß sind.

Sie spielen auf verschiedenen Orgeln, Cembali und Clavichords ohne oder mit Pedal, haben sogar ein Klaviziterium – eine Art senkrecht aufgeklapptes Cembalo, von dem nur noch ganz wenige Exemplare erhalten sind – im Programm und wechseln oft in ungewohnte Klangräume, wenn Sie zum Beispiel die normalerweise (und auch von Ihnen bereits früher) auf der Orgel gespielten Triosonaten diesmal per Cembalo und Clavichord vermitteln. Suchen Sie dabei im Sinne der Authentizität nach Instrumenten oder deren Nachbauten, die Bach noch selbst gekannt haben könnte?

Unbedingt. Man darf das nur nicht zu eng sehen. Wir wissen über seine realen damaligen Instrumente nur lückenhaft Bescheid. Es geht also eher darum, zu recherchieren, welchen Klängen er in einer Weise begegnet sein könnte, dass sie sein Komponieren direkt beeinflusst haben, und auch darum, in welchen Kontexten seine Werke entstanden sind – zum Beispiel, dass manches wie das Klavierbüchlein für seinen Sohn Wilhelm Friedemann gar nicht zur Veröffentlichung gedacht war. Das gehört auf ein intimes, häusliches Instrument; ich nutze dafür ein Clavichord von 1763, das Bach also praktisch nicht mehr erlebt haben kann – doch er lebte bereits inmitten vergleichbarer Klänge und hat aus solchen Erfahrungen heraus diese kleinen Miniaturen geschrieben.

Aber Sie haben bei den Orgeln sogar moderne Instrumente genutzt . . .

Ich hatte mich bei den ersten Folgen erst einmal auf Andreas Silbermann und den Nachbau einer Schnitger-Orgel kon­zen­triert, aber ja: Die Blumenroeder-Orgel im Pariser Temple du Foyer de l’Âme, an die Sie vielleicht denken, ist ein modernes Werk von einer damals noch ganz jungen elsässischen Firma. Aber sie ist erstens im sächsischen Stil konzipiert, mit dem Bach vertraut, der aber in der Pariser Orgellandschaft vor fünfzehn Jahren ganz neu war. Und zweitens steht sie in einer protestantischen Kirche . . .

Ja, im Ernst: Diesen Teil der Aufnahmen auf quasi protestantischem Boden zu spielen, war mir einfach wichtig. Mit und um Bach herum lässt sich eben nicht alles rational auflösen – und das muss es auch nicht. Wenn ich zum Beispiel eben ein Clavichord als Instrument für Wilhelm Friedemanns Klavierbüchlein erwähnt habe, dann war dessen Schöpfer Johann Adolf Hass ein Sohn jenes Hieronymus Albrecht Hass, dem wir das dreimanualige Cembalo in Provins verdanken, auf dem ich das erste Heft des „WK“ eingespielt habe. Also: Vater und Sohn Hass bauen im Abstand einer Generation In­stru­mente, die dann genau für Vater und Sohn Bach passen. So etwas empfinde ich nicht nur als bloße Kuriosität, sondern es formt, über welche Kanäle auch immer, mein künstlerisches Denken mit. Gerade zu Bach gibt es unzählige – und in jedem Jahrzehnt wieder neue – Zugänge. Was seine Einmaligkeit ausmacht, ist, dass bei ihm immer ein Kern bleibt, der weder durch eine einzelne Interpretation – nicht einmal eine grottenschlechte – angreifbar noch je zu erschöpfen ist. Doch um diesen Kern herum bleibt alles in Bewegung und kann stets wieder neu erschlossen werden für jeden, der sich ihm nähert – gleich, von welcher Distanz aus.

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