Beckers letzter Film: Eine Art Familientreffen

vor 2 Tage 4

Die letzte Videothek in Prenzlauer Berg in Berlin schloss im Jahr 2022. Sie trug den schnöden Namen „Video Center“ und hatte den Charme eines mäßig laufenden Sanitätshauses. Immerhin aber ist durch dieses historische Faktum der Umstand gedeckt, dass der Film „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ mit einer Videothek in Berlin beginnt, die – dreißig Jahre nach der Wende, also 2019 – immer noch die Stellung hält.

Sie trägt den Namen „The Last Tycoon“, ein typischer Fall Berliner Ironie, und der Buchstabe „c“ hat offensichtlich einen Wackelkontakt. Mal leuchtet er, mal wieder nicht, so, als könnte sich das Geschäft nicht für eine seiner beiden Möglichkeiten entschließen – gut zu gehen oder doch eher bald pleite. Der Betreiber heißt Micha Hartung, er ist ein unverbesserlicher Romantiker des Kinos. Er kann zu jedem Jahr wie aus der Pistole geschossen die besten und auch noch ein paar weniger bekannte Filmtitel nennen. Seine Videothek ist zugepflastert mit Plakaten großer Werke von Stanley Kubrick abwärts. Die vielen eingeschriebenen Briefe, die bei ihm auflaufen, wirft er ungeöffnet in eine Kiste. Es spricht alles dafür, dass es „The Last Tycoon“ nicht mehr lange geben wird.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Doch dann betritt ein Mann das Geschäft, der für Micha Hartung alles ändert. Ein schnieker Journalist von einem großen Magazin, der eine Geschichte zu erzählen hat. Im Jahr 1984 fuhr doch ein Wagen der DDR-S-Bahn auf dem Bahnhof Friedrichstraße auf ein Gleis, das in den Westen der Stadt führte. Da musste jemand subversiv die Weiche so gestellt haben, dass 127 Menschen in der Freiheit landeten, ohne sich den Gefahren des Todesstreifens aussetzen zu müssen. Und war Micha Hartung nicht damals bei der Reichsbahn? War er nicht in jener Nacht am Bahnhof Friedrichstraße im Dienst?

Der Journalist Alexander Landmann (Leon Ullrich) tritt in das Leben des verschlurften Videothekars wie ein Mephistopheles. Das heißt aber nicht, dass „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ sich nun zu tragischer Höhe aufschwingen muss. Im Register der Komödie lässt sich besser von der früheren DDR erzählen, von den Hinterlassenschaften des Unrechtsstaates, mit denen die Bundesrepublik immer noch gut zu tun hat.

Ein Film auf den viele gewartet haben

Wolfgang Becker, der Regisseur von „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“, hat vor mehr als zwanzig Jahren mit „Good Bye, Lenin!“ den erfolgreichsten Spielfilm über Ossis und Wessis gemacht, der nicht, wie „Das Leben der Anderen“, auf Pathos und Drama setzte. Die DDR wurde damals aus ihrer Küchenperspektive, aus den Kleinigkeiten einer verschämten Warenwelt, nachgebaut, um den arg abrupten Abschied von ihr alltagskulturell zu entschärfen.

Becker hat danach weitere Filme gemacht, zum Beispiel „Ich und Kaminski“, nach einem Roman von Daniel Kehlmann. Aber im Grunde war immer die Frage, ob es ihm noch einmal gelingen würde, an „Good Bye, Lenin!“ anzuschließen. „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist nun dieser Film, auf den viele gewartet haben – keine Fortsetzung, aber noch einmal ein großer, heiterer Versuch über die Bilder, die von der DDR kursieren. Der gleichnamige Roman von Maxim Leo erwies sich dafür als eine ideale Vorlage.

Und nun kommt der Film just ein Jahr nach dem Tod des Regisseurs in die Kinos. Denn Wolfgang Becker starb im Dezember 2024. Die Dreharbeiten hatte er noch abgeschlossen, alles danach, Schnitt und Postproduktion, erledigten seine Kompagnons und Freunde von der Firma X Filme für ihn, vor allem Achim von Borries und der Produzent Stefan Arndt. Becker war ein Wessi, und X Filme, gegründet in der Aufbruchsstimmung der wiedervereinigten Stadt, gemeinsam mit Arndt, Dani Levy und Tom Tykwer, war ein Ort, an dem viele Freiheiten nach der Mauer in den Mainstream überführt wurden. „Lola rennt“ hatte schon 1998 die Idee einer Stadt als großer Schicksalskreuzung entworfen und „Good Bye, Lenin!“ dann die friedliche Revolution von 1989 in ein Koma versetzt, aus dem ein betreutes Aufwachen in eine Freiheit mit Pflegevorbehalt organisiert werden musste. Die beiden inzwischen kanonischen Filme hatten gemeinsam einen untrüglichen Sinn für die Zumutungen der Plötzlichkeit: Wenn alles zu schnell geht, muss man entweder dreimal so schnell laufen oder radikal Tempo herausnehmen.

Plötzliche Berühmtheit

Micha Hartung ist die Figur, die daraus aus Kompromissbildung entsteht. Ein Mann aus einer anderen Zeit, der in der Heimat von Paul und Paula die Erinnerung an Jules und Jim hochhält. Für seine Videothek ist das französische Kino von François Truffaut wichtiger als das von Heiner Carow und Ulrich Plenzdorf. Mit seinem Pathos für eine heroische Zeit des Filmemachens und auch des Filmeschauens ist er im früheren Osten der Stadt so etwas wie ein Geheimagent – er war wohl in gewisser Weise immer schon am falschen Platz. Nun liegt es an der Geschichte, an der kleinen wie der großen, ihm eine Position zuzuweisen.

Obwohl Hartung sich an die besagte Nacht im Jahr 1984 nicht besonders klar erinnern kann, steht im Magazin bald eine Reportage mit vielen Details, und dieser Text erregt Aufsehen, sodass er bald im Fernsehen sitzt (auf einer Talkshow-Bank mit Katharina Witt!) und weitere Frage beantworten soll. Bald folgt Ausschmückung auf Ausschmückung, und im Nu ist eine hübsche Mediensatire beisammen, ein Spiegel für den Betrieb, zu dem auch X Filme gehört und diese Zeitung und die Verlage, die sich auf spannende Reportagen stürzen, immer bereit, daraus ein Buch zu machen. „Zug in die Freiheit“ heißt das Buch, in dem Micha Hartungs Story schließlich steht. Es enthält eine Menge erfundenes Zeug, gerade diese Stellen sind es, bei denen dem Lesepublikum die Augen feucht werden.

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Im Kern geht es in „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ um eine alte Frage der Historiographie. Braucht es Helden, damit etwas geschieht? Oder erledigt der Zufall verlässlich das Notwendige? Sind bedeutende Ereignisse eine Sache von Druck und Gegendruck? Oder von einsamen Gesinnungsentscheidungen? Becker und sein Drehbuchpartner Constantin Lieb stellen sich diesen Fragen, indem sie zwei Bewegungen verschränken. Hartung wird einerseits von der Politik in geregelte Abläufe eingespeist, bald steht ein Termin beim Bundespräsident an, in Schloss Bellevue erscheint man aber nicht einfach so zum Tee, da sind jede Menge Instanzen zwischengeschaltet. Andererseits melden sich in dem Moment, in dem Hartung seine Rolle als Weichensteller der Wende angenommen hat, ein paar Menschen, die zu dem Vorfall aus dem Jahr 1984 auch etwas wissen oder zu sagen haben. Ein damaliger Dissident etwa, der jetzt mit Solschenizyn-Bart und moralischer Besitzstandswahrung allen auf die Nerven geht, oder ein seinerzeit hohes Tier von der Staatssicherheit.

Selbst die Nebenrollen sind prominent besetzt

Mit Lust packt X Filme einen um den anderen Namen aus dem Starsystem des heutigen deutschen Kinos aus: Leonie Benesch spielt die Tochter des Helden, Thorsten Merten den Zeugen des Unrechtsstaats, Peter Kurth hat die Präpotenz derer aus der DDR, die nach 1989 auf die Butterseite fielen, wie aus dem Effeff drauf. Daniel Brühl, Eva Löbau, Jürgen Vogel, Dani Levy, sie alle haben kleinere Rollen, und für die Romanze, die nicht fehlen darf, ist Christiane Paul dabei, die 1996 in „Das Leben eine Baustelle“ entdeckt wurde – Regie: Wolfgang Becker. Vorsitzender des Familientreffens ist Charly Hübner, bei dem man den Eindruck haben könnte, schon Maxim Leo hätte beim Schreibens seines Romans an ihn gedacht. Hübner trifft genau jene Trägheit gegen eine sich überstürzende Geschichte, die auf ihre Weise selbst revolutionär sein kann. Er ist ein Darsteller, der an das Genre heranreicht, das „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ heimlich zitiert.

Denn es war ein Western von John Ford, der für den Konflikt von Micha Hartung die Begriffe und die Lösung bereitgestellt hat. In „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ geht es um eine Heldentat, die aus einem Kontext der Überwindung von Gewalt kommt: James Stewart benötigt dafür die heimliche Hilfe von John Wayne, am Ende aber muss diese Wahrheit nicht öffentlich werden. „Print the legend!“ Die Zeitungen drucken lieber die Legende, der zufolge ein naiver Idealist es mit einem Revolverhelden aufnehmen kann.

Die Bewegung, die den Unrechtsstaat DDR überwand, hatte viele Heldinnen und Helden. Bis heute aber denken die postkommunistischen Gesellschaften darüber nach, woran es wirklich lag, dass 1989 so folgenreich werden konnte. „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ maßt sich dazu kein Urteil an. Mit seinem großen Ensemble setzt er vielleicht am ehesten darauf, dass das Geltungsbedürfnis, das man – in Maßen – niemand krummnehmen darf, wechselseitig eingehegt werden kann. Die DDR war sicher kein kommunistischer Staat, aber ein ausgeprägterer Gemeinsinn als in der stärker individualisierten Bundesrepublik zählt mindestens zu ihren Mythen. X Filme hat um diese Idee und um das Andenken ihres ersten Gesellschafters Wolfgang Becker nun eine Legende gestrickt, mit der die Berliner Republik ganz gut leben können sollte.

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