Das Hamburg Ballett empfing, als sich am Premierenabend der Vorhang zum Applaus hob, großer Beifall, Jubel, der sich zu den Standing Ovations steigerte, zu denen jede Neumeier-Aufführung dieses Publikum über Jahrzehnte hinreißen konnte. Und wie recht das Publikum am Sonntag hatte, denn Ballettdirektor Lloyd Riggins präsentierte eine wundervolle, so makellose wie berührende Aufführung des neben „Giselle“ größten romantischen Balletts, von „La Sylphide“, einem Handlungsballett, das die lebhaftesten und die düstersten Szenen kennt und die Schönheiten des frühen Spitzentanzes als das zeigt, was sie sind: Ungekünstelte, virtuose Bewegung, die Figuren charakterisiert, die erzählt, die sprechend ist, die ihre theatralische Funktion in jedem Augenblick kennt und erfüllt.
Im Anschluss an dieses zweiaktige Ballett in August Bournonvilles Kopenhagener Fassung von 1836 zeigte Riggins eine ebenso gefeierte Auftragschoreographie, die von heute aus auf den Stoff schaut und die Figur dieses Luftgeists neu interpretiert. Aleix Martinez heißt der Erste Solist und Choreograph des Hamburg Balletts, den Riggins dazu eingeladen hat. Dieser Abend, die Einstudierung und die neue Choreographie, wurden konzipiert und kreiert ohne jeden Vorlauf, gleichsam aus dem Riggins-Stand. Umso bemerkenswerter ist das kluge und gelungene Ergebnis dieser ersten Premiere der Post-Demis-Volpi-Ära. Riggins ist es gelungen, zwanglos an die Neumeier-Zeit anzuknüpfen, der Bournonville ebenfalls liebt und Martinez förderte. Gleichzeitig zeigt dieses Doppelprogramm mit seiner thematischen Verbindung bei größter Freiheit für Martinez, wie ideenreich der Ballettdirektor Riggins dramaturgisch denkt.
Eine auf- und abbrandende Choreographie
In Bournonvilles „La Sylphide“ sieht man, wie gegenüber der vier Jahre zuvor uraufgeführten Pariser Fassung eine größere Schlichtheit und Natürlichkeit der Ballettsprache hervortritt. Die Rechte an der Pariser Musik konnte Bournonville für Kopenhagen nicht erstehen, sie waren zu teuer. Und so erzählte er seine bewegende Geschichte von dem schottischen Landmann James, der sich am Abend vor seiner Hochzeit in den übermütigen und nicht wenig unheimlichen Luftgeist verliebt, zu der eigens neu komponierten Musik des gerade einundzwanzigjährigen dänischen Komponisten Herman Severin Løvenskjold.
Szene vom Premierenabend am Hamburg BallettKiran WestAleix Martinez hat für sein Ballett „Äther“ eine atmende, auf- und abbrandende Choreographie in großen Bildern geschaffen, ein Tanztheater, dessen faszinierendes Zentrum ein grüblerischer, schuldbeladener James bildet. Auch musikalisch hat sich Martinez als ein junger, wilder Könner erwiesen, zu der phantastisch tiefen, mitreißenden, und doch intellektuellen Musik des 1946 geborenen, lettischen Komponisten Pėteris Vasks sowie einem kurzen Stück von Arvo Pärt erfindet er souverän seine Figuren.
Deswegen wurden nicht nur die guten Tänzer, sondern auch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, seine Solisten und sein Dirigent Markus Lehtinen gefeiert, weil sie wie die Tänzer den ästhetischen Sprung über fast zwei Jahrhunderte hinweg nahmen, als wäre es gar nichts. Es ist großartig zu erleben, dass Musiker und Tänzer beides können und beides lieben, die Romantik und das Zeitgenössische, und zwei in den Mitteln und Anforderungen so weit voneinander entfernten Epochen an einem Abend Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Dieses mutwillige Dazwischenfunken
Eine Dramaturgie, wie dieses Programm sie entwickelt, ist nicht nur interessant für das Publikum, sie ist vorbildlich, indem sie zeigt, dass ein Repertoire beides enthalten muss, traditionelle, das Original reproduzierende Fassungen und, wenn das inhaltlich legitimiert ist, neue Fassungen alter Stoffe, neue Interpretationen faszinierender Figuren und Geschichten.
Das sollte dann aber auch so sein wie hier, nämlich klar getrennt. Martinez‘ temperamentvolle Bewegungssprache, in der die schwer zu tanzenden, in einen Wirbel der Emotionen ziehenden Duette der bei ihm männlichen und weiblichen Luftgeister absolute Höhepunkte bildeten, zitiert die dänische Sylphide aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als Ballerina im Originalkostüm. In der ikonographischen Armhaltung, bei der eine Hand einen Ellbogen hält, die Finger der anderen Hand zart das Gesicht berühren, was einen träumerischen Ausdruck erzeugt, mit den berühmten bourrées, den kleinen, schnellen Schritten auf der Spitze bei eng geschlossenen Füßen, durch die der Eindruck des Schwebens erzeugt wird, fliegt sie über die Bühne.
Bei Bournonville lockt die Sylphide mit ihrem mutwilligen Dazwischenfunken, ihrem allen menschlichen Banden gegenüber zerstörerischen Auftreten einen James ins gesellschaftliche Nichts. Bereits in den fröhlichen Vorbereitungstänzen der Hochzeit sieht sich seine Verlobte Effie plötzlich alleine in der Menge der Verwandten und Freunde. Ist James nur allzu bereit, sich in die andere, magische Welt hinüberlocken zu lassen, so ist die Sylphide seelenlos in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber allem Menschlichen und will James nur an sich ziehen – weil sie es kann. Ein Geist kennt keine Konsequenzen. In dieser Geschichte aber schon. James ist ein Verirrter in ihrer Welt, er tötet sie, indem er sie mit Gewalt an sich binden will und stärkere Kräfte der Geisterwelt das zu verhindern wissen.
Bei Martinez geht die ganze alte Welt in Flammen auf. James ist nicht der Bürger, der die Realität flieht und einem romantischen Ideal hinterher jagt, das nicht existiert. James ist der Mensch, der die Natur mit Zivilisation zurückdrängt und schließlich erstickt. Den Sessel, in dem er anfangs seinen Gedanken nachhängt wie im Original, lässt Martinez später brennen. In dem großen Fenster rechts oben in der schwarzen Rückwand, zu dem eine Leiter hinaufführt wie zu dem einzigen Ausweg aus der Misere, erscheint manchmal wie mahnend die Sylphide, manchmal zeigen Kiran Wests starke Bilder von der Erde und vom Himmel, was wir zu zerstören drohen.
Die großen Tänzergruppen, die Martinez wie Flüchtlinge, wie Rettung Suchende über eine Bühne schickt, auf der quer hinten ein riesiger, schwarz verkohlter Baumstamm liegt, heißen „Mystische“ und „Wanderer“. Es ist leicht, das Spirituelle unserer Welterfahrung auszuschließen aus dem Bewusstsein, es ist leicht, darüber zu lächeln, dass wir eine erneuerte Verbindung zur Natur suchen müssen, es ist einfach, sich den Anliegen der Artenrettung und des Klimaschutzes zu verschließen. Martinez weist in dem an interessanten Einblicken reichen Programmheft darauf hin, dass die in Schottland spielende, die Romantik auf einen Höhepunkt treibende Geschichte der Sylphide ihre Entstehungszeit mit der Industrialisierung Englands teilt.
Man könnte mit Martinez die Sylphide als einen Naturgeist interpretieren, den der Mensch nicht aufhört sich unterwerfen zu wollen. Wenn wir sie nicht verstehen lernen als einen Geist, der uns anschaulich macht, dass auch wir Luft, Wasser, Erde, und alle Geschöpfe sind, was dann, das fragt Martinez in seinem beklemmenden Stück über eine hypothetische Substanz: Äther. Sein James hält sie in der Hand wie ein Licht.

vor 2 Tage
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