Tobias Delius: Auf der Boogie-Woogie-Welle

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„For Toby“ heißt eins der acht Stücke auf dem neuen Album des Christian Marien Quartetts, und mit „Toby“ dürfte niemand anders gemeint sein als der Saxophonist und Klarinettist des Albums, Tobias Delius. 1964 in Oxford als Sohn eines englischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, zog Delius mit Anfang zwanzig zum Studieren nach Amsterdam, spielte dort in zahlreichen Bands, lebt nun aber schon lange als Teil der hiesigen Jazzszene in Berlin. In der Hauptstadt wurde ihm in diesem Jahr auch der renommierte Berliner Jazzpreis zuerkannt.

Die Jury des Preises hob den Witz und die Offenheit seines Spiels wie auch Delius’ warmen und erdigen Saxophon-Sound hervor. Beides ist auf dem Album „Beyond the Fingertips“ (MarMade Records) zu hören. Spielt Delius eben noch eine einschmeichelnde, fast säuselnde melodische Linie, lässt er sein Tenor­saxophon im nächsten Moment ploppen und pfeifen, als würde er eine Jungsbande auf der Straße zusammenrufen. Unterstützt und geteilt werden diese Spontaneität und Flexibilität von Jasper Stadhouders an der Gitarre, Christian Marien am Schlagzeug und Antonio Borghini am Kontrabass. Auskomponierte Passagen gleiten da geschmeidig über in freie Improvisation – und dann mit geradezu traumwandle­rischer Sicherheit wieder zurück in die feste Form.

 „Beyond the Fingertips“.Christian Marien Quartett: „Beyond the Fingertips“.Marmade Records

So perfekt austariert ist das Spiel des Quartetts, dass „Beyond the Fingertips“ per Direktmitschnitt aufgenommen werden konnte. Bei diesem Verfahren kratzt ein Tonarm die Musik direkt in den Lack einer Platte, die dann als Vorlage für die Vervielfältigung dient. Nachträglich zu schneiden oder die Lautstärke auszupegeln, ist dabei nicht möglich. Auf diese Weise kommt zugleich der Geist einer Liveaufnahme auf die Scheibe.

Eine Studioaufnahme, die zugleich eine Liveaufnahme ist, schwebte auch dem Bassisten von „Beyond the Fingertips“, Antonio Borghini, für sein neues Album „Resta chi va“ (We Insist! Records) vor, das er vor kleinem Publikum im Berliner Tonstudio „Zentrifuge“ aufgenommen hat. Teil seines Sextetts ist wiederum Tobias Delius. Neben ihm spielt mit Pierre Borel ein zweiter Holzbläser. Der fran­zösische Altsaxophonist bringt ein Charlie-Parker-haftes Moment zusätzlicher Rasanz in die Angelegenheit, wie überhaupt die Musiker von Banquet auf Consequences (so der Name der Band), tief in Jazzgeschichte tauchen, um sie ordentlich abzustauben und ihr neues Leben einzuhauchen.

 „Resta chi va“.Antonio Borghini and Banquet of Consequences: „Resta chi va“.We Insist Records

Mal sind es Borels Bebop-Reminiszenzen, mal lässt die Pianistin Rieko Okuda eine Prise Boogie-Woogie-Welle heranrollen. Das Stück „Vorwärts, Schildkröte“ basiert auf einem Walzertakt, an anderer Stelle lädt Borghini (den in Berlin lebenden Italiener bitte unbedingt für den nächsten Jazzpreis vormerken!) mit festem Bogenstrich zum Tango.

Die Musik auf „Resta chi va“ ist immer sehr gestisch, man könnte sie sich zu weiten Teilen auch als Theatermusik vorstellen – als Musik für ein absurdes Theaterstück, versteht sich, hoch emotional und zugleich ironisch gebrochen. Manche Passagen erinnern an Verfolgungsjagden in Nouvelle-Vague-Filmen mit Jean-Paul Belmondo.

Der dramatische Gestus ist einerseits dem Einfluss des 2023 ver­storbenen Cellisten und Performance-Künstler Tristan Honsinger geschuldet, der als Inspirator ei­ner ganzen Generation improvisie­render Musiker in Deutschland ge­wirkt hat (nicht umsonst ist mit Anil Eraslan ein Cellist in Borghinis Sextett vertreten); andererseits verdankt diese niemals innerliche, sondern immer direkt an die Zuhörer gerichtete Musik vieles dem Werk von Charles Mingus, von dessen freiem Geist das Album insgesamt durchdrungen ist und dessen schroff-kraftvollen Ton Antonio Borghini wie kein Zweiter in die Zukunft trägt.

Christian Marien Quartett: „Beyond the Fingertips“. Marmade Records

Antonio Borghini and Banquet of Consequences: „Resta chi va“. We Insist! Records

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