Social-Media-Verbot: Was mache ich nun mit meinem Leben?

vor 1 Tag 3

Sie starren auf die Displays ihrer Handys, als wären sie nicht mehr Teil der realen Welt. Onlineplattformen fixieren ihre Augen. Viele Kinder kommen morgens nicht mehr aus dem Bett, berichten Eltern, weil sie nachts ein verstörendes Video nach dem anderen anschauen. Social Media beherrscht sie so sehr, dass sie täglich ihr Mittagessen kalt werden lassen. Dass sie auf der Straße nicht mehr kontrollieren, wo sie hinlaufen. Jede neue Nachricht, jeder neue Fol­lower, jedes Like verleitet sie, sofort zu reagieren, ohne nachzudenken. Endloses Scrollen und Daddeln. Für eine Kindheit im wirklichen Leben bleibt keine Zeit. Videospiele machen Kindern anfangs Spaß, am Ende geht es aber nur noch ums Geld. Reize im Sekundentakt, die nie aufhören. Irgendwann kommt der Punkt, an dem die verbale Kommunikation mit der Außenwelt leidet. Die Kinder können sich nicht mehr richtig konzentrieren, sie können sich auch nicht mehr sinnvoll mit sich selbst beschäftigen.

Betreiber „sozialer Medien“, wie sich die Onlineplattformen euphemistisch nennen, haben sich lange dagegen gewehrt, Minderjährige vor gesundheitlichen Schäden eines Dauerkonsums zu schützen. In Australien hatten Tiktok, Facebook & Co vom Gesetzgeber gerade ein ganzes Jahr lang Zeit bekommen, um Konzepte für einen besseren Jugendschutz und Methoden für eine Altersverifizierung zu entwickeln. In dieser Woche war die Deadline erreicht. Seit Mittwoch verbietet die australische Regierung Kindern und Jugendlichen bis zum 16. Geburtstag die Nutzung jener Internetplattformen, die sie in den letzten zwölf Monaten auf eine Negativliste gesetzt hat. Dort stehen zehn Konzernnamen – neben Tiktok und Facebook beispielsweise auch X, Instagram und Snapchat. Mark Zuckerbergs Meta-Konzern kam der Frist zuvor und löschte bereits am 4. Dezember rund eine halbe Million australischer Facebook- und Instagram-Accounts.

Gegner befürchten Verstöße gegen den Datenschutz

Bei Missachtung des Gesetzes müssen Eltern und Kinder keine Strafen befürchten. Die Umsetzung obliegt allein den Techunternehmen, die in Einzelfällen mit Strafzahlungen von umgerechnet 30 Millionen Euro rechnen müssen, sollten sie sich weigern, sogenannte „Teen Accounts“ zu sperren, oder wenn sie es unterlassen, das Alter ihrer jungen Kunden zu verifizieren. Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund haben sich bis Mittwoch sukzessive alle Konzerne auf der Negativliste bereit erklärt, dem neuen Gesetz Folge zu leisten.

Das weltweit erste Social-Media-Verbot ist in Australien selbst – und in vielen anderen Ländern – aber nicht unumstritten. Gegner begründen ihre Ablehnung vor allem mit befürchteten Verstößen gegen den Datenschutz. Bei der Altersverifizierung sei Missbrauch Tür und Tor geöffnet, meinen die Gesetzesgegner. Gegen die Techkonzerne besteht seit in vielen Jahren ohnehin der begründete Verdacht, dass sie Daten junger Kunden maximal ausschlachten und ohne Rücksicht auf den Jugendschutz für Werbung und andere kommerzielle Interessen nutzen. In vielen Ländern stehen Internetunternehmen vor Gericht und werden beschuldigt, Kinder mit unangemessenen Inhalten zu schädigen.

Der Appell "Let them be kids" war diese Woche auch als Projektion an der Sydney Harbour Bridge zu sehenDer Appell "Let them be kids" war diese Woche auch als Projektion an der Sydney Harbour Bridge zu sehenReuters/Hollie Adams

Der australische Premier Anthony Albanese und die regierende Australian Labor Party (ALP) haben das Social-Media-Verbot quasi geerbt, denn vor einem Machtwechsel im Mai 2022 wollte auch die heutige liberalkonservative Opposition Kindern und Jugendlichen den Zugang zu einschlägigen Onlineplattformen verbieten. Laut aktuellen Umfragen unterstützen rund 70 Prozent der australischen Bevölkerung das neue Gesetz, wobei 35 Prozent Zweifel hegen, ob die Umsetzung wirksam kontrolliert werden kann. Oppositionsführerin Sussan Ley wirft Premier Albanese vor, den Gesetzesentwurf ihrer Partei seit 2022 verwässert zu haben. Der Opposition geht das Verbot nicht weit genug. In Deutschland gibt es laut einer Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur (dpa) eine ähnlich große Mehrheit für ein Verbot. Selbst in der Altersgruppe der Achtzehn- bis Vierundzwanzigjährigen, die mit Social Media aufwuchsen, sind 65 Prozent der Befragten dafür.

„Sucht euch eine neue Sportart“

Als das neue Gesetz am Mittwoch in Kraft trat, versuchte Premier Albanese unter Sechzehnjährige zu ermutigen, ihr Leben ohne Tiktok- oder Insta­gram-Accounts besser zu gestalten. „Macht mehr aus den kommenden Schulferien, als nur auf euren Handys zu scrollen“, sagte der australische Regierungschef. „Sucht euch eine neue Sportart, lernt ein neues Musikinstrument und lest das Buch, das schon eine Zeit lang bei euch im Regal steht.“ Albanese meint, Kinder und Jugendliche sollten sich künftig wieder mehr an ihrer Familie oder am Freundeskreis orientieren.

„Let them be kids“ – dieses Motto hört man oft in Australien, in dieser Woche wurde der Appell aufmerksamkeitsträchtig auf die Sidney Harbour Bridge projiziert. Dabei verbringen Minderjährige in Down Under im Vergleich zu gleichaltrigen Deutschen wohl eher mehr Zeit im Freien. Sie lieben es, auf Bäume zu klettern oder von Felsen ins Wasser springen, und begeistern sich für verschiedenste Sportarten. Nicht zuletzt deshalb zählt Australien mit seiner relativ kleinen Bevölkerung seit Jahren zu den erfolgreichsten Sportnationen der Welt. Doch dieser Erfolg ist in Gefahr – und die auch in Australien um sich greifende Onlinesucht spielt dabei eine unrühmliche Rolle. Hauptanliegen von Albanese und seiner Regierung ist es, Minderjährige vor ungefilterter Brutalität aus dem Netz zu schützen, auf die sie überhaupt nicht vorbereitet sind. Vor sexualisierten Chats, harter Pornographie, Cybermobbing und Gewaltvideos.

Wie kontrolliert man die Einhaltung des Verbots?

Skeptiker meinen, die Regierung könne die Einhaltung des Social-Media-Verbots überhaupt nicht kontrollieren. Das stimmt natürlich, genauso wenig wie sie Rauch- und Alkoholverbote für Jugendliche im Einzelfall überwachen kann. Das geht nur in autokratisch geführten Ländern wie der Volksrepu­blik China oder Nordkorea. Doch während in Australien Kioskbetreiber und Gastwirte verpflichtet sind, Minderjährigen weder Bier noch Zigaretten zu verkaufen, stehen beim Tiktok- und Facebook-Verbot insbesondere Eltern und Lehrer in der Pflicht, Minderjährige anzuleiten – und nicht etwa Hilfe dabei zu leisten, die Neuregelung auszutricksen. In diesem Fall, das gibt Australiens Kommunikationsministerin Anika Wells unumwunden zu, werde das neue Gesetz scheitern.

Australien könne ganz ohne das Verbot auskommen, sagen die Gesetzesgegner. So könne die Privatsphäre von Kindern und Jugendlichen wirksam geschützt werden, wenn offengelegt werde, wie Konzerne die privaten Daten ihrer jungen Kunden nutzen. Würden mehr Sicherheitsprogramme installiert, könnten Minderjährige eine bessere Kontrolle über ihr Surfen im Netz bekommen. Sie könnten sich zudem gegenseitig helfen, mit gesundheitsschädigenden Inhalten umzugehen, argumentieren die Verbotsgegner. Bestehende Gesetze müssten wirksamer angewandt werden.

Das Smartphone als Waffe

Die australische „Youth Affairs Coalition“ rechnet damit, viele Jugendliche ohne Account – im doppelten Wortsinn – nicht mehr erreichen zu können. Eine Sozialarbeiterin, die sich Cody nennt, berichtete dem Rundfunksender ABC von Jugendlichen, die so süchtig wurden, sich so sehr von der Gesellschaft isoliert hätten, dass sie sich fragen müssten: Was mache ich nun mit meinem Leben, nachdem alle Accounts gesperrt worden sind? Offenbar ist eine Intensität der Abhängigkeit entstanden, wie es sie früher nur beim Konsum von Drogen gab. Sozialarbeiter wie Cody befürchten deshalb Suizide unter Jugendlichen – die verheerendste Auswirkung der Onlinesucht. In den letzten Jahren kam es bereits zu zahlreichen Selbsttötungen von Jugendlichen, die Ursache war Cybermobbing. Eines der Opfer ist Ollie Bannister aus Brisbane, der 2024 nach systematischen, feindseligen Schikanen durch Gleichaltrige im Internet Suizid beging. „Ich habe es satt, dass sich Social-Media-Riesen um die Verantwortung drücken“, sagt seine Mutter Mia Bannister und fügt hinzu: „Ein Smartphone mit Zugang zu Onlinenetzwerken ist die größte Waffe, die Eltern ihren Kindern aushändigen können.“

Wissenschaftliche Studien belegen längst regelmäßig negative Folgen des Dauerkonsums auf Plattformen bei Minderjährigen. Störungen der Sprachentwicklung, der Konzentrationsfähigkeit sowie motorische Hyperaktivität zählen zu den häufigsten Befunden. Die weltweite Zahl der Social-Media-Nutzer hat sich zuletzt, zwischen 2017 und 2024, von 2,5 auf fünf Milliarden verdoppelt. Im September 2024 veröffentlichte das Deutsche Ärzteblatt Forschungsergebnisse der Siegfried-Freud-Privatuniversität in Wien, wonach digitale Mediensüchte zu einem „häufigen Problem in der psychotherapeutischen Praxis“ geworden sind. Neben Onlinerollenspielen und Sexportalen weisen soziale Netzwerke das höchste Suchtpotential auf, heißt es in der Studie.

Der australische Premierminister Anthony Albanese (Mitte) mit Gästen bei einer Veranstaltung anlässlich des Inkrafttretens des neuen GesetzesDer australische Premierminister Anthony Albanese (Mitte) mit Gästen bei einer Veranstaltung anlässlich des Inkrafttretens des neuen GesetzesDavid Gray/AFP

Auf die Schließung Hunderttausender sogenannter „Teen Accounts“ reagieren australische Jugendorganisationen pragmatisch. Fördermittel würden sie nun seltener in Social Media stecken, sondern wieder in die eigene Homepage. Das sind schlechte Nachrichten für die Techkonzerne, die es bislang so gut verstanden, die Welt der Kinder und Jugendlichen für eigene kommerzielle Interessen nutzbar zu machen.

Weltweit erhält Australien überwiegend Anerkennung für seinen Mut, sich mit den mächtigen Onlineplattformen aus den USA und China anzulegen. Globale Aufmerksamkeit ist dem Land in diesen Tagen jedenfalls sicher. Neuseeland und mehrere Länder in Südostasien wollen dem australischen Beispiel folgen und ebenfalls Social-Media-Verbote auf den Weg bringen. Auch die amerikanische Moderatorin Oprah Winfrey ist eine prominente Befürworterin. Winfrey sagt, Kinder würden durch das australische Verbot „besser geschützt“, sie würden „ein besseres Leben“ bekommen. Eine wachsende Zahl von Abgeordneten der Republikaner und Demokraten in den USA sieht es offenbar ähnlich. Und in Brüssel nannte EU-Handelskommissar Maroš Šefčovič das Onlineverbot einen „wegweisenden Ansatz“.

In Australien haben Eltern die Sache derweil selbst in die Hand genommen und bekämpfen Social-Media-Süchte ihrer Kinder auf unkonventionelle Weise. So ließ Familie Faughey in Sydney ihren vor Jahren gekündigten Festnetzanschluss erneut verlegen, um den drei Kindern „geduldiges Verhalten“ sowie „eine andere Art der Kommunikation“ beizubringen, wie es Sally Faughey in einem Interview mit ABC Australia ausdrückt. Kinder kennen Festnetztelefone ja meist nur noch als Anekdote aus der Vergangenheit. Um ihre drei Kinder „von ihrer iPad-Sucht zu befreien“, wie sie sagt, hat Sally Faughey ein altes, grünes Wählscheibentelefon aus der Garage geholt. Weil das aber nicht mehr funktionierte, ließ sie ein neues Festnetz installieren. Seither gibt es im Hause der Faugheys wieder einen Familienanschluss – einen einzigen nur, für fünf Personen. Denn Sally war es leid, dass sich ihre Kinder oft stundenlang mit ihren Handys isolierten.

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