Reich-Ranicki-Platz: Sieht so eine Ehrensache aus?

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Marcel Reich-Ranicki war bis 1988 Literaturchef dieser Zeitung, aber er war noch viel mehr. Vor allem ein Exponent der Fortsetzung jüdischen Leben in Deutschland nach der Schoah – also entgegen allen Erwartungen. Seine Frau Teofila und er hatten im Warschauer Ghetto und nach der Deportation der meisten dortigen Bewohner in die Vernichtungslager in einem Versteck überlebt. Als das Paar mit seinem Sohn Andrzej 1958 aus dem kommunistischen Polen in den Westen ging, wandte sich der schon zuvor als Kulturjournalist tätige Reich-Ranicki der Literaturkritik zu, zunächst vor allem bei der Wochenzeitung „Die Zeit“, seit 1973 dann bei der F.A.Z., bis zu seinem Tod 2013.

Fünfzehn Jahre lang war er hier Literaturchef und damit länger als alle seine Vorgänger oder Nachfolger, er begründete die „Frankfurter Anthologie“ als lebendigstes Forum für Lyrik im deutschsprachigen Zeitungswesen, er war an der Konzeption des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt beteiligt und ersann für das ZDF das „Literarische Quartett“, dessen Pu­blikumswirkung ohne Beispiel war. Seine Memoiren „Mein Leben“ sind ein Bestseller, Reich-Ranickis Rede zum Holocaust-Gedenktag 2012 bewegte das ganze Land, und kein Bürger der Stadt Frankfurt am Main außer Goethe dürfte einen größeren Bekanntheitsgrad besitzen.

Weshalb es konsequent ist, dass er und seine Frau in Frankfurt mit der Benennung eines Platzes gewürdigt werden sollen. Am kommenden Samstag wird er eingeweiht, mittags. Gut, dass man diesen Zeitpunkt dafür gewählt hat, denn unter der Woche rauscht so viel Verkehr auf der Ausfallstraße am nunmehrigen Reich-Ranicki-Platz vorbei, dass man den angekündigten Poetry-Slam von Schülern wohl kaum verstehen würde. Wie überhaupt die Fläche vor dem Bürgerhaus Dornbusch und am U-Bahn-Eingang nur insofern etwas mit den Reich-Ranickis zu tun hat, als dass sie einige hundert Meter entfernt wohnten; wer Marcel Reich-Ranicki kannte, der weiß, dass er sich hier nie aufgehalten hat, er fuhr ja nicht einmal U-Bahn.

Teofila und Marcel Reich-RanickiTeofila und Marcel Reich-Ranickidpa

Schon als dieser Ort vom zuständigen Ortsbeirat 2014 ins Gespräch gebracht wurde, lehnte der Magistrat der Stadt ihn als unangemessen ab, aber der Beschluss erging dann nach elf Jahren doch – unter Berufung auf die Zustimmung des Sohns der Reich-Ranickis. Leider starb der in London lebende Andrew Ranicki 2018, so dass er eine Alternativüberlegung nicht mehr kennenlernen konnte: die Benennung des noch namenlosen Platzes vor dem Haupteingang zum Frankfurter Messegelände nach seinen Eltern. Gut, auch da ist eine U-Bahn-Station, aber vor allem ist dort der Schauplatz der Buchmesse, eines Hauptwirkungsfelds von Marcel Reich-Ranicki.

Seine Enkelin Carla sprach sich im Namen der Familie für diesen Platz aus; bei dem am Dornbusch fühle sie sich nicht wohl, schrieb sie noch in diesem Sommer dem Ortsbeirat. Der aber ließ sich nicht mehr beirren auf seinem Irrweg. Nachdem Frankfurt es versäumt hat, die Reich-Ranickis zu deren Lebzeiten zu Ehrenbürgern zu machen, werden sie nun wie nebenbei abgewürdigt. Wenigstens gibt es nicht weit weg die Erinnerungstafel am ehemaligen Wohnhaus an der Gustav-Freytag-Straße.

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