Penis-Bilder im Internet: Die Macht der Schwellkörper

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Es gibt Bilder, von denen man sich wünscht, sie nie gesehen zu haben. „Dick Pics“ zählen für die meisten Frauen dazu – jene ungewollten Penisbilder, die ganz unvermittelt auf dem Handybildschirm erscheinen, oft verschickt von völlig Fremden. Laut Statistik hatte jede zweite Frau im Alter von sechzehn bis vierundzwanzig Jahren schon einmal ein Foto von einem erigierten Penis in ihrem digitalen Postfach. In der Altersgruppe der Fünfundzwanzig- bis Vierundvierzigjährigen ist es jede Vierte.

Die Autorin Sarah Koldehoff hat einen Essay über Dick Pics geschrieben, erschienen im Wagenbach Verlag in der Reihe „Digitale Bildkulturen“ – darin plädiert sie dafür, ungefragte Penisbilder nicht zu verharmlosen, sondern sie immer wieder klar zu benennen als das, was sie sind: sexualisierte Gewalt.

Ein Massenphänomen

Dick Pics sind zu einem digitalen Massenphänomen geworden. Selten zeigen die Absender ein ästhetisches Gespür bei der fotografischen Inszenierung ihrer Genitalien. Die Kamera wird einfach draufgehalten; das Dick Pic, eine rohe Momentaufnahme sexueller Erregung. Die Reaktionen der Empfängerinnen reichen von Scham und Ekel über Belustigung bis hin zu Angst. Oft werden die Bilder von Frauen als starke Grenzüberschreitung erlebt und in den seltensten Fällen als gelungene Einladung verstanden, sich auf ein erotisches Spiel einzulassen. Dabei sei es genau das, was sich die Absender häufig erhofften, wie Koldehoff schreibt: dass ihnen jemand mit einem Nacktbild antwortet.

 „Dick Pics“. Digitale Bildkulturen.Sarah Koldehoff: „Dick Pics“. Digitale Bildkulturen.Wagenbach

Ungefragt Nacktbilder zu verschicken, ist nach Paragraph 184 im Strafgesetzbuch strafbar. Wer sie erhält, kann Anzeige erstatten. Das geschehe nach Koldehoff jedoch nur selten, etwa in einem Prozent der Fälle. Ihre Analyse will die Autorin nicht als übereifrige Sexualmoral verstanden wissen: Es geht ihr nicht darum, Penisbilder – sofern sie beim Flirten einvernehmlich verschickt werden – zu bewerten. Koldehoff konzentriert sich auf nichtkonsensuelle Dick Pics.

Eben weil Männer ihre genitalen Selbstporträts oft verschickten, ohne um Erlaubnis zu bitten, drehe sich vorrangig alles um die eigene Bedürfnisbefriedigung. Die Tradition von sexuellem Anspruchsdenken schreibe sich fort, mit der Männer Macht und Dominanz demonstrierten. Das sei nichts anderes als Misogynie, so die These der Autorin. In ihrem Essay fächert Koldehoff die tief gelagerten Ebenen der Gewalt auf, welche die Genital-Selfies produzieren können.

So zeigt sich die Perfidität etwa darin, dass die Bilder vielfach umgedeutet werden könnten: spielerisch, beleidigend, humorvoll oder bedrohlich. Da Dick Pics zu einem eigenen digitalen Genre geworden sind, verlieren sie zunehmend ihre schamhafte Bedeutung. Sie werden zur vielfach zitierten ironischen Geste, mit der sich der Übergriff leicht verschleiern lässt. Durch ihre „symbolische Flexibilität“ kann der Absender immer behaupten, man habe den Witz einfach nicht verstanden. Koldehoff beschreibt diese Entwicklung als „Logik der patriarchalen Körperpolitik, in der männliche Nacktheit bedrohlich und gleichzeitig lustig wirken kann“. Die Deutungshoheit wird auf die Empfängerin abgewälzt: Sie soll es eben so verstehen, wie es für sie erträglich ist oder wie das Motiv bestenfalls verstanden werden könnte.

„I didn't ask for this“

Phallusdarstellungen sind natürlich kein zeitgenössisches Phänomen. In ihrem Essay unternimmt Koldehoff einen kulturhistorischen Exkurs: von der Penis-Meißelei im alten Rom über heimlich zugesteckte Zeichnungen von Geschlechtsteilen im viktorianischen Zeitalter bis hin zu expliziten Darstellungen à la Andy Warhol und dem fotografischen Werk von Robert Mapple­thorpe: „Cock“. Die Erscheinungsform des heutigen Dick Pics lasse sich jedoch nicht einfach als Ergebnis ikonographischer Fortschreibung erklären, argumentiert Koldehoff. Erst die Digitalisierung der Bilder macht es möglich, dass die Penisporträts in sekundenschnelle massenhaft verbreitet werden können.

Doch wie umgehen mit den Dick Pics? Die amerikanische Künstlerin Whitney Bell wählte im Jahr 2016 die offensive Strategie: Unter dem Titel „I didn’t ask for this: A lifetime of dick pics“, stellte sie mehr als hundert Penisbilder aus, die sie jahrelang ungefragt von Fremden im Internet erhalten hatte. Die Influencerin Shauna Dewit reagierte, indem sie selbst ein Dick Pic zurückschickte, das sie zuvor von einem anderen erhalten hatte. Die Absender reagierten wie ihre Empfängerinnen: geschockt und angeekelt.

Auch auf das Pendant geht Koldehoff ein: Das ungefragte „Pussy Pic“ sei jedoch in der digitalen Kultur ein unbekanntes Phänomen. Frauen verschickten Vulvabilder eher, nachdem sie dazu aufgefordert worden seien. Hinzu kommt, dass Frauen sich oft der Risiken bewusst sind, die mit dem Versenden solcher Bilder einhergehen, wie Stigmatisierung oder Objektifizierung. Während Vulva- oder Vaginabilder in feministischen und künstlerischen Kontexten gezielt als Akt der Selbstermächtigung genutzt werden, bleibt das Dick Pic in der digitalen Sphäre mit Macht, Grenzüberschreitung und sexualisierter Gewalt verbunden.

„Boys will be boys“

Mit ihrem Essay warnt Koldehoff davor, Penisbilder zu bagatellisieren. Ihre Rechnung ist klar: Je mehr solche Bilder die Postfächer junger Frauen fluten, desto schneller tritt der gesellschaftliche Gewöhnungseffekt ein. Und damit die Gefahr, dass die Gewaltdimension der Penisbilder verharmlost wird – oft verbunden mit den immer gleichen Floskeln wie: „Boys will be boys“.

Koldehoff fordert einen Bedeutungswandel von Penisdarstellungen, ein anderes Sprechen über Genitalien und Sexualität. Die Verantwortung sollte nicht den Frauen überlassen werden, die sich damit konfrontiert sähen, wie sie mit den Abbildungen fremder Genitalien in ihren digitalen Briefkästen umgingen. Die Autorin sieht die Gesellschaft, allen voran die Männer, in der Pflicht, sich „die Absurdität der gesamten Situation“ vor Augen zu führen: dass viele Männer ihre Hosen herunterließen und ihre Kamera zückten, um „mit einem blutgefüllten Schwellkörper Macht über eine andere Person demonstrieren zu wollen“.

Man kann nur hoffen, dass Koldehoffs überzeugende Analyse eine neue Debatte über Dick Pics anstößt. Eine, die ernst nimmt, was vielen jungen Frauen – oft schon im Teenageralter – in der digitalen Sphäre tagtäglich zugemutet wird.

Sarah Koldehoff: „Dick Pics“. Digitale Bildkulturen. Wagenbach Verlag, Berlin 2025. 80 S., Abb., br., 12,– €.

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