Um den kokainweißen Elefanten im Raum gleich zu Beginn sanft, aber bestimmt aus dem Raum zu bugsieren: Ja, neben den unbestreitbaren Problemen mit dem Teufelspulver gibt es eine davon unabhängige lebendige kolumbianische Kunst, zumal der aktuelle Präsident des Landes, Gustavo Petro, entgegen Trumps Vorwürfen der Kokakultur den Kampf angesagt hat. Und Kolumbiens Kunst erschöpft sich auch keinesfalls in dem in Medellín geborenen und vor zwei Jahren in Monaco verstorbenen Fernando Botero, dem im Herzen Bogotás ein riesiges Museum gewidmet ist, das man unbedingt sehen sollte. Jedoch nicht wegen seiner kitschigen Bronzeplastiken barocker Frauen und mopsiger Tiere, vielmehr um der spektakulären Kollektion von Bildern seiner Künstlerfreunde wie Picasso, Braque, Arp oder Bacon willen – und überraschenderweise auch einer exzellenten Impressionistensammlung.
Nein, am unverstelltesten äußert sich eine Kultur in ihren Gedenkstätten und Memorialen, der Art also, wie ein Volk trauert und sich seiner dunklen Momente erinnert. Schon der Weg vom Flughafen ins Zentrum der auf 2600 Meter Höhe gelegenen Hauptstadt Bogotá führt meist vorbei an einem Friedhof vieler einstiger Regimegegner, die gewaltsam ums Leben kamen und deren Grabfächer mit Hunderten von der 1932 im kolumbianischen Bucaramanga geborenen Künstlerin Beatriz González gestalteten Bildern überdeckt sind. Wie in einem Palimpsest des Überschreibens gedenkt sie hier der vielen in den Revolten der vergangenen Jahrzehnte Getöteten.
In Bogotás Alstadt steht eine der eindrücklichsten Gedenkstätten weltweit
Von der wohl wichtigsten kolumbianischen Künstlerin, der 1958 in Bogotá geborenen Doris Salcedo, stammt eines der eindrücklichsten Memoriale weltweit, das sie innerhalb eines zerstörten barocken Lehmgebäudes des Altstadtviertels La Candelaria installiert hat: Es heißt „Fragmentos“, auf Deutsch „Bruchstücke“, und trägt schon im bedeutungsschwangeren Titel eine dreifache Aufladung: Wie das ausgebrannte Metallgerippe der „Friedensdenkmal“-Kuppel im japanischen Hiroshima symbolisieren die wie hohle Zähne stehen gebliebenen Lehmmauern des alten Herrenhauses, dass Krieg nur Tod und Ruinen zurücklässt, zugleich aber auch die Hoffnung, der brüchige Frieden von 2016 zwischen Staat und linken FARC-Rebellen nach jahrzehntelangen blutigen Kämpfen möge nicht zu Bruch und die Erinnerung an den steinigen Weg zu diesem nicht verloren gehen.
Der schwankende Boden des brüchigen Friedens: „Fragmentos“ von Doris Salcedo in Bogotás AltstadtStefan TrinksNicht zuletzt steht das Memorial „Fragmentos“ für ein sehr konkretes Brechen brutaler Waffengewalt: Unfassbare 69.000 Kilogramm Waffen und Munition übergaben die FARC-Kämpfer bis 2017 an die UN. Die Waffen allein, achttausend Stück von siebenunddreißig Tonnen Gewicht, ließ Salcedo – Schwerter zu Pflugscharen! – einschmelzen und zu dem an seiner Oberfläche unruhigen, mithin „schwankenden“ Boden umgießen. Nicht ohne dabei interessante Entdeckungen zu machen: Fünftausend Gewehre etwa trugen fortlaufende Seriennummern aus nordamerikanischen Waffenschmieden, waren somit keineswegs auf dem Schwarzmarkt gekauft, sondern ganz offiziell aus den USA geliefert worden.
Den metallenen Spolienboden ihres kritischen Antidenkmals ließ Salcedo zudem von zwanzig Frauen bearbeiten, die in dem jahrzehntelangen Krieg Opfer sexueller Gewalt nicht nur der Guerilla, sondern auch staatlicher Sicherheitskräfte und Söldner geworden waren. Die Wut über ihre Schändung konnten die Frauen in dieser symbolischen Ermächtigungsgeste an den Waffen in Metallplattenform auslassen, indem sie diese stundenlang mit dem Hammer traktieren durften. 1296 Stück von je sechzig Zentimeter Kantenlänge bedecken heute den Boden des großen leeren Saales im Herzen des Mahnmals, der wie Mies van der Rohes Berliner Nationalgalerie ein ebenso würdevolles wie sakralisiertes großes Glasreliquiar über schwarzen Stahlstützen bildet.
Traurige Weisen dringen aus dem Gemäuer
Zusätzlich erinnern aktuell auch die großformatigen Gemäldecollagen des britisch-kenianischen Malers Michael Armitage an die mehr als 20.000 ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer, die ähnlich wie das Leid der vielen zivilen kolumbianischen Opfer sonst unsichtbar geblieben wären. Und im Garten vor dem Memorialgehäuse lässt die zwar in Kanada geborene, aber im saudischen Dhahran aufgewachsene und indisch inspirierte Künstlerin Hajra Waheed aus Lautsprechern in den Ritzen der alten Mauern ihre hypnotischen Frauengesänge „Hum II“ aus asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Nomadenkulturen dringen, die – obwohl sie teils lange von den Obrigkeiten verboten waren – gleichermaßen verzaubern und in Bann schlagen wie unendlich traurig stimmen. In diesem Garten der Wehmut wird jeder zum Portugiesen.
Verwobenes Sprechen und Schreiben: Sofía del Mar Collins nutzt Quipu-Knoten als Erinnerungsspeicher und bringt alles zum Schweben.Cámara de Comercio de Bogotá„Wenn man Waffen schmelzen kann, so kann man auch Hass schmelzen“, hat Doris Salcedo die Intention ihrer Installation einmal benannt. Den Minen der bis zu fünfhundert „Fragmentos“-Besucher täglich ist die Betroffenheit angesichts der Radikalität des Erlösung-durch-Erinnerung-Ortes deutlich abzulesen. Eine Nation, die eine Salcedo als Künstlergewissen hat, wird jedenfalls die im weltgeschichtlichen Maßstab eben erst überwundene blutige Vergangenheit und den Schatten der Gewalt als andauerndes Damoklesschwert nicht vergessen.
Dies gilt auch für ein weiteres Paradoxon – die in Kolumbien menschheitsalte Sprache der Tücher, Stoffe und textilen Knoten auf der modernsten künstlerischen Plattform, die das Land zu bieten hat: ihre Biennale BOG 25 unter dem Oberthema „Essays on Happiness“ und die generalüberholte Messe ARTBO, die deren neuer Direktor Jaime Martínez durch eine bestrickende Mischung aus handwerklicher Solidität, intimster Materialkenntnis und gleichzeitig breitem Wissen um die akuten Fragen zeitgenössischen Kunstschaffens für die Zukunft als das führende Kunst-Epizentrum Lateinamerikas aufstellen will. Selbst wer sich nicht für den Kauf von Kunst interessierte, fand dort in einer Sektion „Proyectos“ zehn junge Künstlerinnen, die auf subtile Weise alte textile Traditionen ohne abgeschmackten Kunstgewerbekitsch in zeitgenössische Kunst überführen.
Hervorzuheben ist hier vor allem Julia Bejarano Lopéz, die das alte Kommunikations- und Erinnerungssystem der unter den Spaniern verbotenen Inka-Knoten der Quipus in moderne Formen transformiert: Ihr Textilbild „Eco IV“ von 2025 besteht aus exakt siebzehn Metern verdrillter und ineinander verknoteter Kordelwelle in siebzehn Lagen, weil dies die Mindestentfernung für ein funktionierendes Echo ist. Kuratiert wurden diese schwerelos-geschichtsschweren Stoffe der „Proyectos“ von Carla Acevedo-Yates, und da die Kunsthistorikerin zum Kernteam der nächsten Documenta-Leiterin Naomi Beckwith gehört, darf die komplexe Sprache der Stoffe auch in Kassel erhofft werden.
Bogotá, nicht San Francisco: Das historische Zentrum läuft steil bergan und birgt auch textile Schätze in Barockkirchen.Christian Heeb/laifWer sich hingegen für historische indigene Textilien und Kleidungsstücke als Kulturerbe interessiert (was in Europa heute leider nur noch auf der Schwundstufe von Frida-Kahlo-Folklorekitsch bekannt ist, sich seit dem Barock jedoch als roter Faden durch die Bilderwelt Kolumbiens zieht), muss nur in alte Kirchen gehen. Selbst italienische Heilige wie Klara von Assisi werden dort etwa vom berühmten kolumbianischen Spätbarockmaler Baltasar Vargas de Figueroa in ornamentüberzuckerte einheimische Tracht gesteckt, wie man es im vollständig mit Bildern des siebzehnten Jahrhunderts gepflasterten Kloster Museo Santa Clara gleich hinter Bogotás Parlament am zentralen Plaza de Bolívar bewundern kann.
Solare Ikonographie: Bei Mariano Leóns Kreuz aus Folklore-Plattencovern gehen textil wirkende goldene Sonnenstrahlen und Wegenetze von Inka-Monumenten aus.Cámara de Comercio de BogotáÜberhaupt sind es im Wesentlichen drei Materialien, die bis heute künstlerische Verwendung finden: schützender Stoff vor den Unbilden einer klimatisch extremen Umwelt, der Stein der felsigen Hochgebirge sowie eine jahrtausendealte hoch entwickelte Töpferkultur des Arbeitens mit Ton und Lehm (interessanterweise dominieren Ziegel- und Klinkerbauten bis heute das Stadtbild Bogotás, oft auch im um 1900 populären englischen Landhausstil direkt neben Art-déco-Juwelen). Leicht generalisierend, aber nicht falsch darf somit von der Trias Ton, Steine, Fäden als bestimmende Elemente auch noch der derzeitigen kolumbianischen Kunst gesprochen werden. Etwa wenn die guatemaltekische Maya-Kaqchikel-Künstlerin Marilyn Boror Bor eine auch in Kolumbien vertraute indigene „Partitura“-Melodie in Form von figürlichen Okarina-Tonflöten auf unsichtbaren Notenzeilen an der Messewand fixiert, die man durch ihre realen Abstände der „Ton“-Höhen sogar nachpfeifen könnte. Oder wenn die Künstlerin Danielle Kovalski die über die Jahre in ihren Wohnungen verbliebenen Kleidungsstücke von Geliebten, Freunden und verlorenen Familienangehörigen als stoffliche Erinnerungsreliquien in hemd- oder taschenförmigen feuchten Ton drückt und damit merkwürdig berührende Reliefs strukturierten Sentiments schafft.
Wie hört man sich Steine an?
Denn auch die Petroglyphen der Andenregion und insbesondere im peruanischen Nasca sowie der fest verankernde Glaube an eine Beseeltheit von Steinen und Gebirgen wie den Bogotá im Norden rahmenden Kordilleren finden buchstäblich ein klangliches Echo in der zeitgenössischen Kunst: Der zweiundvierzigjährige kolumbianische Installationskünstler und Filmemacher Iván Argote beispielsweise lässt kalte und harte Felsen weich werden und verleiht ihnen etwas Poetisches, indem er seine monumentale Steinskulptur mit Küssen übersät. Sein Kollege Leonel Vásquez wiederum setzt einen dicken Wackerstein auf einen tönernen Blumentopf als Sockel und befestigt auf dem Granit einen Tonabnehmer und Schalltrichter, um das Gestein zum Klingen zu bringen. Die resultierenden Steinzeittöne nennt er „Canto rodado a una voz“. Und wie bei den Benin-Bronzen tobt aktuell der Streit um die Rückkehr vieler steinerner Figuren der kolumbianischen Prähistorie, die in Museen rund um die Welt verstreut zu finden sind und zu deren möglicher Restitution im September in Berlin eine Forschungstagung abgehalten wurde.
Die Sprache der Steine: Der Künstler Leonel Vásquez lässt harten Fels erklingen.Cámara de Comercio de BogotáWer die wirklich alten Steine und Stoffe bewundern will, muss ins Nationalmuseum pilgern, das in einem monumentalen Gefängnisbau von 1823 untergebracht ist. Hier finden sich neben den keramischen Meisterwerken – ein archaisches Mischwesen aus rotem Ton etwa sieht tatsächlich aus wie der liebenswürdig-kratzbürstige Alien aus dem Film „Lilo & Stitch“ – und den nicht zuletzt von Alexander von Humboldt (der in Kolumbien anders als Christoph Kolumbus, der das nach ihm benannte Land nie betrat, immer noch als nicht kolonialer, weil altruistisch forschender „zweiter Entdecker Amerikas“ verehrt wird) gefundenen Smaragd- und Goldvorkommen (das Museo del Oro Bogotás ist dagegen fast obszön in seiner eldoradohaften Anhäufung von tonnenweise Gold) die eigentlichen Schätze des Landes: die textilen Künste. Bei Ausgrabungen wie jener der „Tumba de Quinchana“ von San Agustín 1946 kamen neben überlebensgroßen steinernen Götterbildern immer wieder kunstvoll gewebte und zum Teil gut erhaltene gefärbte Stoffe ans Tageslicht.
Im Museo de Arte Moderno de Bogotá, kurz Mambo, schließlich werden junge Künstler wie aktuell Oscar Muñoz gezeigt, jedoch auch Altmeisterinnen wie die siebenundachtzigjährige Malerin Beatriz Gonzáles mit ihrem Pop-Art-lastigen Stil aus Zeitungsbildern und lateinamerikanischer Farbigkeit oder die 2003 gestorbene Grande Dame Emma Reyes. In diesem Mix aus Jung und Alt, alter Form in neuen Tüchern, Trauer und Freude, entsteht in Bogotá momentan Einzigartiges.

vor 11 Stunden
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