Abdulrazak Gurnahs neuer Roman: Wie kommen wir aus dem langen Schatten des Kolonialismus heraus?

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„Er konnte Geschichten erzählen. Mit seinen Geschichten hatte er ihre Kindheit verzaubert. Sie hatte alles für wahr gehalten, und selbst als sie erfuhr, dass sie es nicht waren, blieb ein Eindruck von Wahrheit.“ Die Passage stammt aus dem Roman „Diebstahl“, doch sie trifft genauso gut auf dessen Autor, den Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah, zu. Mit zwanzig Jahren wanderte er aus Sansibar nach Großbritannien aus. Später unterrichtete er an der University of Kent Englisch und postkoloniale Literatur. Gurnahs Werke waren auch schon vor der Nobelpreisverleihung viel beachtet: etwa „Das verlorene Paradies“ (1996), „Schwarz auf Weiß“ (2004) und „Nach­leben“ (2022).

Der neue Roman „Diebstahl“ spielt in Tansania, Gurnahs Heimatland. Es geht um drei junge Menschen, die dort aufwachsen. Sie versuchen, ihren Lebensweg zu gestalten. Da ist der ehrgeizige Karim, der Umwelttechnik und Geographie studiert und schließlich in seine Heimatstadt Daressalam zurückkehrt. Sein Name stammt aus dem Arabischen und bedeutet „der Großzügige“. Seine Eltern haben sich früh getrennt, seinen Vater hat er kaum gesehen, das Verhältnis zu seiner Mutter Raya ist wechselhaft.

Dann ist da die schüchterne Fauzia, die eine behütete Kindheit genießt und eine sehr gute Schülerin war. Sie leidet an Fallsucht, kämpft mit Anfällen und ist deswegen immer wieder nervös. Schließlich heiratet sie Karim und entkommt ihrem allzu vorsichtigen Elternhaus. Und da wäre noch Badar, ein mittelloser Junge, der sich mit Fauzia und Karim anfreundet. Er arbeitet als „Diener“ bei einer „Herrin“, hilft im Haushalt, putzt und kocht. Dafür hat er ein eigenes Zimmer und genug Nahrung. Nach getaner Arbeit fühlt er sich müde, aber geborgen. Gleichwohl neigt Badar zur Traurigkeit „und konnte nicht anders, als sie auch in anderen zu sehen“.

Gurnahs Protagonisten suchen nach ihrer Identität, wollen sozial aufsteigen, entdecken das Fremde für sich oder stoßen es ab, definieren ihre Heimat neu, brechen alte kulturell-religiöse Riten auf. All diese Spannungsfelder leuchtet Gurnah feinsinnig aus, ohne dabei anzuklagen.

Ein Neubauprojekt auf Sansibar

Auf raffinierte Weise beschreibt Gurnah die Liebesbeziehung von Fauzia und Karim. Das vorsichtige Kennenlernen, die Spannung zwischen ihnen. Über Karim schreibt er an einer Stelle: „Er dachte an sie, das heißt, er erschuf sie in seiner Fantasie, wenn sie nicht da war, obwohl er sich eigentlich auf andere Dinge hätte konzentrieren sollen.“ Die Heirat bringt Fauzia und ihre Familie in einen Konflikt. Die zwanzig Jahre alte Frau diskutiert mit ihren Eltern über traditionelle Ehen. Dazu gehören Praktiken wie das Brautgeld: Fauzia will darauf verzichten, ihre Eltern nicht. Ihr Vater weiß, dass es jetzt andere Zeiten seien, „aber mussten sie deshalb alles aufgeben, ihre Sitten und Gebräuche“? Fauzias Mutter Khadija zeigt sich enttäuscht. Sie beschreibt die Tochter als „moderne Frau“. Trotzdem seien sie als Eltern altmodisch und wünschten sich eine Hochzeitsfeier. Doch Fauzia hat nie behauptet, eine moderne Frau zu sein, „aber sie hielt den Mund“.

 „Diebstahl“. Roman.Abdulrazak Gurnah: „Diebstahl“. Roman.Verlag

Anschließend bekommt Fauzia eine Tochter, Nasra. Sie verändert die Beziehung zu Karim. Das Kind weint viel, und Fauzia kann sich nicht von der Angst befreien, es könnte die Fallsucht von ihr geerbt haben und einen Krampf erleiden. Derweil ist Karim zum Abteilungsleiter der Gesundheitsaufsicht befördert worden und hat ein Neubauprojekt im Norden der Insel Sansibar zu betreuen. Aus Karims Sicht findet Fauzia immerzu neue Ausreden – sie hat schlechte Laune und ist müde. „Er hasste, ja, er hasste ihre Art und Weise, das Baby vorzuschieben und ihn auf Distanz zu halten, ihn von sich zu stoßen.“ Er fühlt sich gefangen und hat das Zusammenleben mit ihr satt; Karim ist mit seiner Vaterrolle überfordert. Ob Gurnah hier moderne, wenngleich alt­bekannte Beziehungsmuster persi­fliert? Badar erkennt, dass sich das Paar aus­einanderlebt. Und nur in seinen Armen hört Nasra auf zu weinen.

Platz für die Schamlosigkeit

Sodann lernt Karim eine Frau namens Jerry kennen: „Ihre Augen waren dunkelblau und ihre Züge sehr fein; Brauen, Kinn und Nase ergaben eine makellose Harmonie.“ Als er Jerry sieht, spürt er, dass ein Ruck durch seinen ganzen Körper geht: „Das Gefühl einer so leidenschaftlichen, rücksichtslosen Liebe war neu für Karim.“

Jerry steht im Roman für die Unmoral, für den Einfluss äußerer Kräfte. Khadija sagt über sie: „Eine herumstreunende Touristin mit Geld, aber ohne Ehre. Was wollen diese Leute von uns? Warum kommen sie her?“ Sie mischten sich überall ein, meint sie, und verschlimmerten mit ihrer Rücksichtslosigkeit die Probleme in Tansania. „Wir haben unsere eigene Art zu leben vergessen. Wir haben freiwillig der Schamlosigkeit Platz gemacht.“

Einerseits scheint hier Gurnahs postkolonialer Duktus durch. Der Kolonialismus wirft nach wie vor einen langen Schatten. Andererseits zeigt er die ambivalenten Haltungen und Widersprüche auf, die mit diesem Erbe einhergehen. Etwa, wenn Fauzia sich fragt, weshalb ihre Freundin Hawa so gut Englisch spricht. Liegt es daran, dass die von ihr geschmähten Touristen die Insel besuchen? Ist Hawa von amerikanischen Serien beeinflusst? „Oder von den Aufnahmen halb nackter Tänzerinnen in schummrigen Clubs, deren strahlend weiße Zähne und fliegende Haare Fauzia das Gefühl gaben, ein benachteiligtes Wesen aus der Unterwelt zu sein. Sich davon verführen zu lassen, war nicht schwer.“

Gurnahs Roman spiegelt die vielschichtigen Aushandlungsprozesse in postkolonialen Gesellschaften wider. Er entfaltet ein brillantes Wechselspiel zwischen Emanzipation und Entfremdung, kulturellen Heimatgefühlen und materiellen wie geistigen Verlustängsten. Der Titel „Diebstahl“ ist eine Metapher und eine Projektionsfläche. Das liegt an ­Gurnahs schnörkellosem Stil, in dessen Schlichtheit eine große Stärke liegt. Er lässt den Zwischentönen, den Schattierungen, den Zweifeln, dem Schmerz genug Raum.

So fordert das Buch uns heraus, weil Abdulrazak Gurnah sich der Sehnsucht nach Eindeutigkeit entzieht. Sein „Diebstahl“ ist von großer literarischer Kraft und illustriert, was gelebte Ambiguitätstoleranz in einer uns – auf den ersten Blick – fremd anmutenden Welt­region bedeutet.

Abdulrazak Gurnah: „Diebstahl“. Roman. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin Verlag, München 2025. 336 S., geb., 26,– €.

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