Neue Kinderbücher: Buddeln! Graben! Löcher! Gruben!

vor 1 Tag 5

Es gibt wohl kein Kind, das es nicht liebt, mit Erde und Matsch zu spielen, sich mit der Schaufel in den Boden zu graben und Sand zu immer höheren Kegeln aufzuhäufen. In den ersten zehn Lebensjahren ist das Schippen und Buddeln den Kindern geradezu elementares Bedürfnis, wie Atmen, Schlafen oder Essen. Materie bewegen, bauen, zerstören, neu bauen, die Beschaffenheit des Untergrunds erkunden, den Sand trocknen, rieseln, einstürzen sehen – was für ein Vergnügen! Noch Vierzehnjährige sieht man selbstvergessen am Meeressaum knien und mit den Händen im Schlick graben, amorphe Gebilde formen, und auch die Erwachsenen lassen den trockenen Sand zwischen den Fingern rieseln, stecken im Frühling die Finger in den Boden und fühlen sich im wahrsten Sinne des Wortes geerdet. Als gäbe es in uns eine genetisch codierte Verwurzelung mit dem Erdreich, das wir beackern, bearbeiten seit Jahrtausenden und dem wir unsere Toten anvertrauen.

Ich habe mit meinem Sohn oft so gegraben, auf dem Spielplatz, am Strand, in Baustellenhaufen (ja, das ist nicht erlaubt, macht aber Spaß), und immer blieben Kinder stehen und wollten wissen, was das wird. „Einfach buddeln!“, haben wir da wie die Autorin Wenda Shurety und die Illustratorin Andrea Stegmaier gerufen, gelacht und dann gesagt, schau, da liegt noch eine Schippe, willst du mitmachen? Und, ohne zu zögern, griffen die Kinder zu.

So ist es auch bei Ben, der in der Trübstraße wohnt, wo nichts los ist an diesem „trostlosen, tristgrauen“ Tag, doch dann sieht er durchs Kinderzimmerfenster das alte Gemüsebeet, stürmt raus und beginnt zu buddeln. Zunächst mit den bloßen Händen, aber schon bald kommt ein neugieriges Nachbarskind nach dem anderen durch die Hecke geschlüpft und über den Zaum geklettert, sie bringen Löffel, Spielzeugbagger, Schaufeln, Eimer, Töpfe, sie buddeln und graben gemeinsam, bis ihr Loch so groß ist wie ein Swimmingpool, so tief, dass sie darin verschwinden.

Zu Kraftakten beflügelt

Wenda Shurety und Andrea Stegmaier haben die kindliche Lust am Graben wunderbar in Szene gesetzt, dieses Vergnügen ganz eigener Art, bei dem man nichts denkt, eigentlich auch kein Ziel hat, oder nur ein sehr vages, das sich ständig den Gegebenheiten anpasst. Und sie zeigen auch, wie sehr die gemeinsame Aktion die Kinder befähigt, sich gegenseitig zu unterstützen, sie zu wahren Kraftakten beflügelt. Einige lockern die Erde auf, andere schieben sie zu großen Haufen zusammen (beim Graben entstehen ja immer zwei Dinge: Aushub und seine Hohlform im Boden), und als es zu regnen beginnt und Ben fragt: „Was machen wir denn jetzt?“, schreien sie: „Weiter!“ Von Erwachsenen ist in diesem Buch nichts zu sehen, Gott sei Dank, denn Erwachsene stören bei solch großartigen Unternehmungen nur, geben unnötige Ratschläge und sorgen sich um Kinderfinger, Dinge, Kleidungsstücke.

„Tomke gräbt“. Mixtvision, 32 Seiten, 17 Euro, ab 3 Jahren.„Tomke gräbt“. Mixtvision, 32 Seiten, 17 Euro, ab 3 Jahren.& Gelberg

Dabei ist dieses gemeinsame Graben, Schaufeln, Buddeln einfach das reine Glück, die Kinder am Ende eine fest zusammengeschweißte Truppe, der Jubel grenzenlos, als sie am Grunde des Lochs etwas entdecken (was, wird hier natürlich nicht verraten). Man möchte sofort wieder Kind sein und so loslegen können, ohne jeden Gedanken an Aufräumenmüssen und die Hände überm Kopf zusammenschlagende Erwachsene.

Auch Tomke ist so ein Kind, das etwas vorhat, das gräbt, einfach so. Die Erwachsenen um ihn herum wollen ständig wissen, was das werden soll, wonach er sucht, welchen Zweck sein Graben hat. Aber „Tomke antwortet nicht. Wer gräbt, kann nicht antworten.“ Es ist Graben zum reinen Vergnügen, Freude daran, wie sich Materie bewegen lässt, wie die Hände, Arme, der Rumpf sich zu einem perfekten Hebel zusammenfügen und gemeinsam Kraft ausgeben, um den Aushub zu schaffen. Julia Dürr hat zu den wenigen Sätzen von Lena Hach wunderschöne Bildcollagen geschaffen, die Tomkes Versunkenheit und stille Emsigkeit, sein freudiges Staunen über die Dinge, Tiere, die er im Erdreich findet, empfindungsreich und mit ansteckender Freude ins Bild setzen. Bis es genug ist, bis Tomke sich ausstreckt auf der Wiese, die Schaufel neben sich, und zufrieden die Augen schließt.

 Emma AdBåges „Unsere Grube“Die Aufgabe der Erwachsenen ist es, nicht zu stören: Emma AdBåges „Unsere Grube“©2020 Beltz & Gelberg

Dass unsere Welt voller Bedenken tragender und pausenlos Einwände formulierender großer Menschen ist und wie sehr diese die Spielfreude der Kinder beschneiden, erzählt die 1982 in Schweden geborene Emma AdBåge in Wort und Bild in ihrem mit entlarvendem Humor geschriebenen Buch „Unsere Grube“. Neben dem Schulhof wurde einmal Kies abgebaut, jetzt ist dort ein herrliches Loch, von Unkraut überwuchert, voller Wurzeln, Steine und Zweige, und an einer Stelle gibt es „unendlich viel gelben Lehm“.

Ein perfekter Spielplatz, wo nichts als „Schaukel“, „Spielhäuschen“, „Klettergerüst“ definiert ist, sondern es der Phantasie der Kinder überlassen bleibt, was sie aus dem Vorgefundenen machen. In jeder Pause rennen die Kinder bergauf und bergab, klettern, bauen an einer Hütte, einem Staudamm oder einer Pfützenabflussrinne, sie überlegen gemeinsam, sprechen sich ab, lösen Probleme, nehmen Verbesserungen vor, haben immerzu neue Ideen. Die einzige Aufgabe der Erwachsenen bestünde darin, nicht zu stören. Die Lehrerinnen und Lehrer aber „hassen“ die Grube.

 „Unsere Grube“. Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger. Beltz & Gelberg, 34 Seiten, 14 EuroEmma AdBåge (Text und Ill.): „Unsere Grube“. Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger. Beltz & Gelberg, 34 Seiten, 14 EuroBeltz & Gelberg

„Sie wollen nicht, dass wir dort spielen, weil man dabei sterben kann.“ Das ist nur leicht übertrieben und eine ins Schwarze treffende Formulierung für das fehlende Vertrauen der frierend von einem Bein aufs andere tretenden Aufsichtspersonen, die vor allem Angst vor dem Ärger haben, den sie bekommen, sollte sich ein Kind verletzen, komplett eindrecken oder erkälten, weil es in der Grube nass geworden ist. Die Angst vor der Grube, dem Kontrollverlust, geht so weit, dass die miesepetrigen Pädagogen heimlich beschließen, das Loch übers Wochenende zuschütten und den Boden versiegeln zu lassen.

Die Kinder sind entsetzt ob der grauen Ödnis, in die sie am Montag blicken. „Alles ist ganz flach und fest! Nirgends kann man runterkullern. Nirgends kann man baumeln. Nirgends auf den Knien runterrutschen, Hindernisse bauen oder Feuerkrater spielen. Man kann nur geradeaus laufen.“ Zum Glück sind Kinder aber hochintelligent, erfindungsreich und voller anarchischer Energie. Sie finden was! Und das ist dann sogar noch besser als die Grube.

Kinder werden in Reservate gesperrt

Emma AdBåge hat ein Buch nicht nur für Kinder, sondern vor allem für Eltern, Lehrer, Erzieherinnen geschrieben, und man kann nur hoffen, dass sich ganz viele von ihnen beim Lesen und vor allem beim Anschauen der fein gezeichneten Illustrationen, die voller Liebe und Verständnis für die Kinder und voller frecher, sarkastischer Seitenhiebe auf die muffeligen Erwachsenen sind, an ihr Kindsein erinnern. Daran, was ihnen beim Spielen, Toben, Draußensein tiefe Befriedigung und Herzensglück geschenkt hat: die Freiheit, zu tun, was ihnen in den Sinn kam.

Kristina Dunker (Text) / Christiane Fürtges (Ill.), „Das rätselhafte Loch in unserer Straße“. Ueberreuter, 32 Seiten, 16 EuroKristina Dunker (Text) / Christiane Fürtges (Ill.), „Das rätselhafte Loch in unserer Straße“. Ueberreuter, 32 Seiten, 16 EuroUeberreuter

Kinder brauchen solche Orte, an denen allein sie die Verantwortung übernehmen und die Regeln bestimmen. Unsere Kinder finden sich jedoch inmitten einer Welt voller Verbotsschilder. Sei es zu Hause oder draußen im Freien, beim Einkaufen oder beim Fahren mit der Straßenbahn – überall treffen sie auf eine bereits eingerichtete, Erwachsenenzwecken dienende, nach Erwachsenenmaßstäben gebaute Welt, was bedeutet: auf lauter Beschränkungen ihres kindlich-spielerischen Forscherdrangs. Nein, nein, NEIN!, ertönt es immerzu.

Spielplätze dienen in erster Linie nicht der Sicherheit der Kinder, sondern der Ungestörtheit der Erwachsenen. Die Kinder werden in Reservate gesperrt, um ihre forschend-spielerischen, in Erwachsenenaugen oft destruktiven Kräfte unter Kontrolle zu halten. Ein richtig guter Spielplatz ist daher ein ungenutztes, brachliegendes, topographisch abwechslungsreiches Gelände, angefüllt mit natürlichem und Industriematerial aller Art, wie zum Beispiel das berühmte „terrain vague“ des „kleinen Nick“ der Franzosen René Goscinny und Jean-Jacques Sempé. Für die Kinder ist so ein Ort nicht ein Ort: Es sind viele verschiedene, die sich alle verschieden anfühlen und wo man ganz verschiedene Sachen machen kann. Ein Ort, den die Kinder für sich erkunden, entdecken, formen, beleben, zerstören, verwandeln.

Ein Loch wird zu einem utopischen Ort

Genau so ein Ort, ein großes, tiefes Loch, tut sich über Nacht in einer Straße auf, keiner weiß, wie und woher und wozu – die Erwachsenen stehen erst mal drum rum und rätseln, während die Kinder ihre Chance ergreifen und zu spielen beginnen. Kristina Dunker zeigt in „Das rätselhafte Loch in unserer Straße“, wie eine Fehlstelle zu einem wunderbaren Ort für alle werden kann, die sich darauf einlassen. Das Loch wird Spielplatz, nach einem ausgiebigen Regen ist es ein Teich, und weil sich dort „eh alle treffen“, bringt Herr Leonetti ein paar Stühle. Nachdem das Wasser wieder versickert ist, baut Herr Mahmoudis einen Erdbackofen, und die Nachbarn feiern ein Fest. Als die Stadt das Loch schließen lässt und die Straße wieder nur noch Straße sein soll, wo Autos fahren und sonst nichts, wissen alle, was zu tun ist: Sie greifen zu Spitzhacken und Spaten, bringen Pflanzen und Laternen und stellen ihr Utopia wieder her.

Dass ein Loch zu einem utopischen Ort werden kann, in den sich Ideen, Zukünfte pflanzen lassen, dass das Graben in der Erde auch eine Sinnsuche ist, wussten schon die Romantiker, von denen so mancher Montanwissenschaftler oder Geologe war. Was unter unseren Füßen liegt, ist gleichzeitig offenbar und verborgen, der Verwandlung unterworfen und kann nach seiner Metamorphose wieder ans Licht treten, will entdeckt, erforscht, enträtselt werden. Der Boden öffnet Räume zu Tunneln und Höhlen, zu geheimen Kostbarkeiten und Schätzen, zur geschichteten Vergangenheit, zu Tod und Wiedergeburt.

Auch die Freunde Sam und Dave machen sich in Mac Barnetts und Jon Klassens „Sam & Dave graben ein Loch“ mit ihren Schaufeln auf. Sie wollen so lange graben, bis sie etwas ganz Besonderes finden. Was dieses „Besondere“ sein könnte, das ahnen sie noch nicht, sie spüren, sie werden es wissen, sobald sie es entdeckt haben. Wie in allen Büchern von Barnett und Klassen ist auch hier mit dem ersten schlichten, präzisen Satz, dem ersten Bild klar, dass wir die Alltagswelt verlassen haben. In geradezu klassisch anmutender Sprache und in Bildern, die ins Unendliche hinübergehen, wird uns hier ein Märchen erzählt, eine wundersame Geschichte, die unsere Welt verlässt und in einen metaphysischen Raum führt.

Eine Sinnsuche, eine tiefe Erfahrung

Jon Klassen hat die Illustrationen als Schnitte durchs Erdreich angelegt, sodass wir von der Seite aus auf die Freunde, ihr Loch beziehungsweise ihre Tunnel und das sie umgebende Erdreich blicken. Wir sehen daher mehr als die beiden, sehen, wie knapp sie an immer größer werdenden, schließlich wahrlich gigantischen, perfekt geschliffenen Edelsteinen vorbeigraben. Der Aushub ist unsichtbar, verwandelt sich unmittelbar in Licht, die Tunnel sind von diesem Licht erfüllt, auch das ein Hinweis darauf, dass wir uns von einer realistischen Geschichte weit entfernt haben. Wie in allen Büchern von Barnett und Klassen geht es auch hier um etwas anderes als die physische Welt: um eine Sinnsuche, einen ideellen Schatz, eine tiefe Erfahrung.

Sam und Dave graben, bis ihre Essensvorräte aufgebraucht sind, bis zur totalen Erschöpfung. Sie schlafen ein. Fallen schlafend, träumend, tiefer und tiefer, bis sie auf einem weichen Boden landen, der dem, von dem sie aufbrachen, zum Verwechseln ähnlich sieht – und doch ein wenig anders ist. Sind sie zu Hause, an einem anderen Ort?

Man kann diese Geschichte hundertmal vorlesen, immer gleich, oder in variierendem Tonfall, humoristisch, sachlich kühl, dramatisch. Man kann sich in die Bilder vertiefen, das dunkle Erdreich betasten, es riecht feucht, krümelt zwischen den inneren Fingern, zieht einen an. Dieses Buch ist ein unerschöpfliches Wunder, das Darüber-hinaus-und-weiter-Denken hört nicht auf. Für Kinder nicht. Und nicht für Erwachsene.

„Na“, sagte Sam.

„Na“, sagte Dave.

„Das war jetzt doch ziemlich was Besonderes.“

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