Fünf Kinder fliehen in Panik aus dem südvietnamesischen Dorf Trang Bàng, das mit Napalm angegriffen wurde. Die neunjährige Phan Thi Kim Phúc hat sich die Kleider vom Leib gerissen, ihre Haut löst sich, sie schreit vor Schmerz. Das Foto, das sie in diesem Augenblick zeigt, weltberühmt als „The Terror of War“ oder „Napalm Girl“, entstand am 8. Juni 1972 nach einem fehlgeleiteten Luftangriff der südvietnamesischen Armee. Die Bomben sollten Stellungen der Vietcong treffen, doch sie gingen über den eigenen Reihen und das Dorf Trang Báng nieder.
Das Bild gab den Protesten gegen den Vietnamkrieg eine neue moralische Wucht. Das Bild bleibe jedem, der es gesehen habe, für immer in Erinnerung, sagte später die französische Fotografin Gisèle Freund. Es stelle den „Inbegriff des Schreckens dar“, schrieb Susan Sontag in ihrem Essay „Das Leiden anderer betrachten“. Das Bild habe die Menschen stärker gegen den Krieg aufgebracht, als „hundert Stunden im Fernsehen übertragene Gräueltaten es vermocht hätten“.
Schon seit einiger Zeit gibt es Streit darüber, wer das Foto gemacht hat: der mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Fotograf Huynh Cong – genannt – „Nick“ – Út oder ein unbekannter „Stringer“, wie lokale Helfer von Journalisten genannt werden? Die so betitelte Dokumentation ist jetzt bei Netflix zu sehen, die Premiere beim Sundance Film Festival ist ein knappes Jahr her. „The Stringer“ will belegen, dass der heute 74 Jahre alte Út, der damals für die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) arbeitete, zu Unrecht geehrt wurde.
Der frühere AP-Bildredakteur Carl Robinson.NetflixDer Film des Regisseurs Bao Nguyen und des Kriegsfotografen Gary Knight stützt sich dabei vor allem auf die Aussagen von Carl Robinson, dem damaligen Bildredakteur der Agentur AP in Saigon. Robinson beschreibt im Gespräch mit Knight, wie er Negative von Út und mehreren freien Mitarbeitern beschriftet habe. Das Foto, auf dem die aus dem Dorf Trang Báng fliehenden Kinder von vorn zu sehen sind, habe er mit dem Namen eines der Stringer versehen. Er habe aber ein anderes Bild an die Zentrale nach New York geschickt, das tatsächlich Út gemacht habe. Darauf sei Phan Thi Kim Phúc von der Seite zu sehen gewesen.
Robinson sei gegen die Veröffentlichung der Frontalaufnahme des nackten Mädchens gewesen, die seiner Ansicht nach gegen Agenturregeln verstieß. Doch dann habe der Bürochef in Saigon, der deutsche Fotojournalist und Pulitzerpreisträger Horst Faas, die Frontalaufnahme der Kinder ausgewählt. Robinson behauptet, er habe das Bild richtig kennzeichnen wollen. Doch habe der 2012 verstorbene Faas zu ihm gesagt: „Nick Út, mach Nick Út draus.“ Dass er die Anweisung befolgte, bereue er sein Leben lang, so Robinson: „Ich habe diese Last fünfzig Jahre lang mit mir herumgetragen.“
Er soll das Foto gemacht haben: Nguyen Thành Nghe.NetflixDer Film folgt Knight, der vietnamesischen Journalistin Lê Vân und weiteren Reporterinnen bei der Recherche. Anfangs scheint es aussichtslos, den angeblich richtigen Fotografen zu finden. Dann bringen Hinweise früherer Kriegsreporter, zum Teil von vietnamesischen Kollegen, sie auf die Spur von Nguyen Thành Nghe. Er arbeitete während des Vietnamkriegs als Fahrer für den US-Sender NBC und verkaufte gelegentlich Fotos an Medienorganisationen. Das Filmteam spürt ihn in Kalifornien auf. Der fast Neunzigjährige gibt ein emotionales Interview: Es habe ihn sein Leben lang verfolgt, dass er nicht für das bedeutende Foto anerkannt worden sei. „Alles, was man hat, ist die Autorschaft des eigenen Werks, das ist dein Vermächtnis“, sagt der Fotograf Knight zu Beginn. Tom Fox, damals freiberuflich für die „New York Times“ in Vietnam unterwegs, meint, es gebe kaum etwas Schlimmeres, als zu Unrecht „aus der Realität und aus der Geschichte“ ausgeschlossen zu sein wie Nghe.
Im Computer wird die Situation, in der das berühmte Bild entstand, nachgebildet, um die Frage zu beantworten: Wer hat fotografiert?NetflixDer Film will seine These mithilfe von Forensikern und vielen Zeugenaussagen belegen. Robinson wird zwar mit der Frage konfrontiert, warum er getan habe, was Faas verlangte, und wieso er mit der Geschichte erst jetzt komme. Doch wird deutlich, dass Knight und sein Team Robinsons Anschuldigungen folgen. Zahlreiche Aussagen sollen überzeugen, zum Beispiel die von Robinsons Ehefrau Kim-Dung, die berichtet, ihr Mann sei sehr unglücklich nach Hause gekommen und habe ihr von der Begebenheit mit dem falschen Fotografennamen berichtet. Das sei unter den vietnamesischen freien Mitarbeitern damals ein offenes Geheimnis gewesen. Die Filmemacher sprechen mit Forensikern, analysieren weitere Fotos und Satellitenaufnahmen von dem Moment, in dem das Bild entstand, und stellen diesen in Computersimulationen nach. Dass Út Bilder aus verschiedenen Perspektiven machte und dass er auf manchen Fotos in einem weiter entfernten Winkel zu dem Mädchen Phan Thi Kim Phúc steht, soll belegen, dass er die berühmte Aufnahme nicht gemacht habe.
Der Film ist aufschlussreich, wenn er Fragen wie die nach Authentizität im Journalismus und dem Umgang mit lokalen Mitarbeitern im Auslandseinsatz aufwirft. Er verrät auch einiges über die Mentalität von Kriegsreportern. So gibt Jon Swain, damals Korrespondent der AFP, zu, bei seiner langjährigen Kriegsberichterstattung „vielleicht mehr am Abenteuer als an den Auswirkungen des Krieges auf die Menschen interessiert“ gewesen zu sein. Tom Fox von der „New York Times“ schildert dagegen ergreifend einen Besuch im Krankenhaus bei der schwer verletzten Kim Phúc, den er nie vergessen konnte.
Der Film ergreift deutlich Partei
The Stringer“ krankt an seiner deutlichen Parteinahme. Alle ehemaligen AP-Mitarbeiter, die Robinsons Geschichte bezeugen könnten, sind heute tot. Der ehemalige Bildredakteur Robinson gibt als Motiv für seine Suche nach dem vermeintlich um Ehre und Geld gebrachten Nghe an, er selbst sei fast 80 Jahre alt und wolle sich entschuldigen, bevor er sterbe. Der Film ist ganz auf Robinsons Seite, auch wenn er Nick Út als Opfer der Situation bezeichnet – er könne letztlich nichts dafür, dass er zu Unrecht berühmt geworden sei.
Wie unkritisch Knight Robinson gegenübertritt, merkt man an einer Stelle im Interview besonders deutlich. Auf die Frage, ob Robinson Út kontaktiert habe, beklagt Robinson, Út habe die Anschuldigungen nicht nur bestritten, er hätte sich „mehr im vietnamesischen Sinne, bescheidener“ verhalten müssen. Der Interviewer Knight kommt nicht auf die Idee, kritisch nachzuhaken und nach Hinweisen auf etwaige persönliche Motive des Kronzeugen zu suchen. In früheren Interviews hat Robinson einen großen Groll über seinen früheren Arbeitgeber und auch gegenüber Út bekundet. Die Agentur AP habe, sagte Robinson 2022, mit dem Foto „pädophile Kriegspropaganda“ veröffentlicht, und Út sei ein „falsches Idol“. Das kommt in Knights Fragen und im Film nicht vor.
Der Film befasst sich stattdessen mit den Arbeitsbedingungen der Kriegsbeobachter. Viele vietnamesische Fotografen waren tagelang an der Front unterwegs und verkauften ihre Fotos gegen Bargeld an Nachrichtenagenturen. Dass sie dafür nicht ordnungsgemäß genannt wurden, war kein Einzelfall. Auch der verstorbene Horst Faas soll sich angeblich Fotos zugeschrieben haben, die nicht von ihm stammten. Ob Faas das wirklich tat und es im Fall von Út und Nghe so machte, kann der Film nicht abschließend klären.
Die Untersuchungen der Agentur AP kamen im Mai dieses Jahres zu dem Ergebnis, die Zweifel reichten nicht aus, um Út die Urheberschaft abzuerkennen. Die Organisation „World Press Photo“ dagegen entschied, „Napalm Girl“ künftig als Werk eines Unbekannten zu kennzeichnen. Damit verlor Út die Auszeichnung „World Press Photo“ aus dem Jahr 1973. Seinen Pulitzerpreis behält er bislang. Gegen den Film, in dem er nicht zu Wort kommen wollte, kündigte Út rechtliche Schritte an. Er sei „tief enttäuscht“, dass Netflix den Film herausgebracht habe, ließ Út über seinen Anwalt mitteilen. Phan Thi Kim Phúc, die er damals nicht nur fotografierte, sondern auch ins Krankenhaus brachte, unterstützt Út. Sein Ansehen trübt der Film „The Stringer“ von Bao Nguyen und Gary Knight ein. Einen letztgültigen Beweis für ihre Darstellung präsentieren sie nicht.
The Stringer ist abrufbar bei Netflix.

vor 2 Tage
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