Klarinettistin Sabine Meyer: Der perfekte Abschied

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Sabine Meyer sitzt wie auf Nadeln am Morgen ihres letzten Berliner Bühnenauftritts. Im Kammermusiksaal der Philharmonie wird sie gemeinsam mit dem Armida-Quartett noch einmal das Klarinettenquintett von Johannes Brahms spielen, eines der großen Werke des Repertoires, Stunden davor kämpft sie in der Hotel-Lobby mit der Ungewissheit: Wird das Rohrblatt gut funktionieren? Wird sie alles zeigen können, was ihr zum Stück einfällt, oder wird sie mit dem Instrument ringen müssen? Holzbläser sind mit den empfindlichen Mundstücken, die aus Schilfrohr hergestellt werden und die auf das Wetter ebenso reagieren wie auf die Höhe des jeweiligen Spielorts, einem ständigen Unsicherheitsfaktor ausgesetzt. Da ändern auch achtundvierzig Jahre Konzertkarriere wenig, wie in Meyers Fall. „Die Beschäftigung mit den Rohrblättern ist für mich der reinste Horror, nach wie vor“, sagt Meyer, krallt sich weiter an ihrem Kaffeebecher fest (sie berichtete von zwei schlaflosen Nächten) und atmet schon einmal auf in der Vorfreude, dass diese Sorge in Kürze passé sein wird.

Zu Beginn des Jahres hatte die Klarinettistin bekannt gegeben, dass Ende 2025 Schluss sein soll mit Konzertauftritten. Bühnenabschied mit 66 Jahren, im Grunde ist das für Musiker kein Alter. Streicher, Pianisten und Dirigenten starten da häufig ihre Spätkarriere. Meyer ist es wichtig, aufzuhören, solange sie noch im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten ist. Sie möchte nicht in Erinnerung bleiben als Künstlerin, die den Absprung nicht geschafft hat, deren Klang und Gestaltungsmöglichkeiten unter den veränderten anatomischen Gegebenheiten des Alters leiden, die sich womöglich gar dem Mitleid ihres Publikums aussetzt. Mit zunehmenden Jahren baut die Muskulatur der Mundpartie ab, die für Klangbildung und Kontrolle des Tones entscheidend ist, dagegen lässt sich auch nicht antrainieren. „Beispiele von Bläsern, die zu lange gespielt haben, gibt es viele. Ich wollte nicht dazugehören“, sagt sie.

Sabine Meyer mit ihrer KlarinetteSabine Meyer mit ihrer KlarinetteJens Gyarmaty

Lieber möchte sie ungetrübt in Erinnerung bleiben als die Solistin, die die Klarinette in Deutschland auf leichte Füße gestellt hat, die die Fixierung auf einen kraftvollen, dunklen Ton hierzulande aufbrach mit musikalischer Phantasie, mit Empfindsamkeit und einer bis dahin ungekannten Flexibilität im Spiel. Ihre Einspielung der Klarinettenkonzerte von Carl Maria von Weber mit der Staatskapelle Dresden, geleitet von Herbert Blomstedt, bleibt auch fast vierzig Jahre nach der Aufnahme das Nonplusultra. Die Art und Weise, wie Meyer mit ihrem schlanken, gestaltungsoffenen Ton korrespondiert mit einer ebenfalls leichtfüßig und geschmeidig spielenden Staatskapelle, beglückt noch heute. Die Aufnahme warf damals, wohl ganz intuitiv empfunden, ein Licht voraus auf die kurz darauf populär werdende Beschäftigung mit der historischen Aufführungspraxis. Ohne dass sie jemals zu den Dogmatikern gehört hätte, folgte die Klarinettistin dieser Praxis auch, als sie das Klarinettenkonzert von Wolfgang Amadé Mozart konsequent auf der Bassettklarinette spielte, jenem etwas tieferen Nebenins­trument, für das Mozart das Werk auch gedacht hatte. Damit nahm sie sich und den Klarinettisten zwar ein Stück aus dem Repertoire für die „normale“ Klarinette, folgte aber auch kompromisslos einer Realität, die sie nicht leugnen wollte. Querverbindungen von hier zur Art ihres Bühnenabschieds drängen sich auf.

Hinter Meyers Entscheidung, mit dem Konzertieren aufzuhören, darf man eine gehörige Portion Perfektionismus vermuten. Der hat sie zwar in die Ausnahmestellung gebracht, die sie bis zuletzt ausfüllte. Lieber aber wäre sie den Zwang zur Vollkommenheit wohl los. Mit einem Ausdruck von tiefer Erleichterung zitiert sie die Pianistin Martha Argerich, selbst Kind und Knecht des Vollkommenen: Perfektion sei das Ende von etwas und damit eigentlich nicht anstrebenswert. Ein Wunschtraum? Zugleich schwärmt Meyer, die selbst exzellent Klavier spielt, für einen weiteren Pianisten der Perfektionistenriege: Arturo Benedetti Michelangeli. Seine Klarheit, sein präzises Verständnis der Musik habe sie immer fasziniert. „Emotionale Distanz, aber musikalische Nähe“, fasst sie zusammen. Das klingt wie ein Credo.

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Wer das Vollkommene anstrebt, sollte gut aufgehoben sein bei einem Orchester, das zu den besten der Welt zählt. Die drei Jahre als Soloklarinettistin bei den Berliner Philharmonikern von 1981 bis 1984 sind indes eine Zeit, die sie lieber vergessen würde. In heute bizarr anmutender Weise stritten damals das Orchester und sein Chef Herbert von Karajan gegeneinander, nachdem Karajan, eigentlich nur mit dem Recht eines Vetos ausgestattet, die Klarinettistin unbedingt ins Ensem­ble aufnehmen wollte, das Orchester aber Vorbehalte äußerte. „Das Orchester hat sich völlig korrekt verhalten“, sagt Meyer heute, „die Probleme fingen an, als sich Karajan einmischte.“ Vom damaligen Intendanten Peter Girth, Karajan hörig, wurde sie gegen den Willen des Orchesters mit einem Vertrag für ein Probejahr ausgestattet, „ich hätte ihn nicht annehmen sollen“, sagt sie im Rückblick. Das Jahr wurde zur Tortur, am Ende kündigte sie und durfte sich nun auch noch des Unverständnisses von Karajan sicher sein. Ein Trauerspiel männlicher Eitelkeiten, dazwischen eine Nachwuchskünstlerin, die keine Empathie erwarten durfte.

Ob zum Problem damals auch gehörte, dass sie eine der ersten Frauen im Orchester war? Eher nachgeordnet, meint Meyer, die überhaupt mit Erstaunen auf die Frage reagiert, wie vielen Vorurteilen sie als Klarinette spielende Frau damals auf einem männlich dominierten Gebiet ausgesetzt gewesen sei: Gar keinen! Es wird nicht zuletzt mit der Außerordentlichkeit von Meyers Fähigkeiten zu tun gehabt haben, dass alle anderen Fragen im Hintergrund verschwanden: Sie wurde im deutschsprachigen Raum zur ersten, in der Breite wahrgenommenen Solistin der Klarinette. Gleichwohl mit Grenzen. Wer Meyer engagierte, der wollte am liebsten Mozart oder Weber hören. Die Klarinettistin hätte gerne mehr Neue Musik gespielt, zahlreich sind die Stücke, die für sie komponiert wurden. Bei den meisten Konzertveranstaltern konnte jedoch nicht einmal Meyers Popularität zum Wagnis in der Programmgestaltung verleiten. Darunter hat sie gelitten.

Am 15. Dezember wird sie in Bern ihr letztes öffentliches Konzert geben, gemeinsam mit dem Alliage-Saxophonquintett, ein Weihnachtsprogramm. Was kommt danach? Die Klarinette wird fürs Erste im Schrank verschwinden, zu Weihnachten, wenn die Enkel zu Besuch sind, aber wohl schon wieder hervorgekramt werden. Es rufen die Familie, der Garten, die Pferde, das Klavier. Sabine Meyer ist guter Dinge, dass sie mit dem Musik- und Publikumsentzug gut klarkommen wird. Ob es ihren Hörern ähnlich geht? Am Abend ihres letzten Berliner Konzertes zieht sich eine lange Schlange quer durchs Foyer des Kammermusiksaals. Am Tisch sitzt Sabine Meyer, deutlich entspannter, und signiert noch einmal ihre CDs.

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