Julius Asal setzt sich nicht an den Flügel im Studio, er bevorzugt das einfache Klavier, mit Filzdämpfung gespielt, das gibt einen ganz weichen Klang. Das „Prelude“ von Maurice Ravel müsse man jetzt rückwärts mitlesen, vom letzen Ton zum ersten. Dann spielt er es – von hinten nach vorn. Eine Minute später ruft er „Und jetzt noch mal normal“ und präsentiert das Stück von 1913 erneut. Diesmal, wie es komponiert wurde. Vorwärts.
Wie ein Röntgenbild entfaltet sich die Musik der impressionistischen Komposition durch diesen Blick von zwei Seiten. Darf man ein Meisterwerk rückwärts spielen? Das Ergebnis gibt Asal recht. Dieses Experiment ist jetzt auch auf seinem Album „Siena Tapes“ (Deutsche Grammophon) zu hören. Gemeinsam mit anderen (normal gespielten) Werken von Ravel, aber auch mit Improvisationen von Asal, ein wenig im Tonfall von Ravel, und doch ganz eigen. Das funktioniert überraschend gut, es könnte die aufregendste Klassikproduktion des Jahres sein: Ein Klaviergenie meldet sich zu Wort! 28 Jahre alt, cool, mit der Frisur eines Achtzigerjahre-Popstars.
Wie in einem Film von David Lynch
So gewagt und überraschend sein Album nun sein mag, gelernt hat Asal ganz klassisch. Er stammt aus dem Taunus, seine Mutter unterrichtete Klavier, Julius spielte nach dem Gehör Stücke nach. Bis er acht war, konnte er keine Noten lesen, wohl aber schon Beethoven spielen. Dann folgte der normale Weg eines Pianisten: Er ging ans Konservatorium, studierte danach in Frankfurt Klavier, lernte zuletzt bei Weltstar András Schiff.
Wie es zu der gewagten Idee kam, etwas rückwärts zu spielen, weiß er nicht mehr. Aber: „So kann ein Gefühl von einer alternativen Realität entstehen“, sagt Asal. „Man erkennt das Stück wieder, aber eben etwas verschleiert, mit einer ganz neuen Perspektive auf das gleiche Material. Es ist immer noch Ravel, aber wie in einem Film von David Lynch.“ Wäre das alles, wäre es nur ein musikalischer Gag. Doch das Album lässt die über 100 Jahre alte Musik auch sonst erstaunlich frisch klingen. „Ich habe große Freude daran, die Noten genau anzusehen und zu schauen, was da auch zwischen den Zeilen notiert ist“, sagt Asal. Das hört man.
Musik, die lebt
Bisher gilt der Pianist Arturo Benedetti Michelangeli als Großmeister dieser Musik: Dem Italiener (der 1996 starb) sagte man nach, dass alle seine zehn Finger gleich stark seien. Er schaffte es auf fast übernatürliche Art, alle Stimmen gleichberechtigt klingen zu lassen. Das passte zum französischen Impressionismus in der Musik (zu Ravel, Claude Debussy oder Charles Koechlin). Asal versucht gar nicht erst, diesem Vorbild nachzueifern. Er hebt auch mal eine Mittelstimme heraus, betont mal eine Bassfigur, nutzt die Dynamik zu kantigen Akzenten, spielt pointiert und charakterstark.
Natürlich ist er nicht die einzige interessante neue Kraft am Klavier. Der Kanadier Ryan Wang ist erst 17 und gewann schon den angesehenen Prix Cortot, die Malayserin Magdalene Ho hat mit innigen Schubert-Interpretationen viele überzeugt, Mao Fujita aus Japan hat bei Sony Classical unterschrieben und spielt alle Mozart-Klaviersonaten sensibel und ausdrucksvoll ein. Aber sie alle halten sich an die Noten. Asal ist der Einzige, der interpretieren kann, einen eigenen Tonfall hat, der die Musik außerdem oft wie Pop oder Jazz behandelt: als etwas, das lebt, das man weitererzählen darf.
Der Achtundzwanzigjährige hat eine große Zukunft vor sichMichael ReinickeIm Hintergrund dieses Albums stand jemand Pate, der oft als der größte Popproduzent überhaupt bezeichnet wird: Rick Rubin. Der formte und produzierte die Beastie Boys, Public Enemy, die Red Hot Chili Peppers, das Spätwerk von Johnny Cash, Kanye West und viele andere. Er gilt als Genie des Pop und Hip-Hop. Vor fünf Jahren verließ der Ausnahmeproduzent Kalifornien, wo er sein Studio hatte. Rubin lebt derzeit meist auf einem Anwesen bei Siena in der Toskana. Dort wurde nun auch Julius Asal in einer kleinen Kapelle aufgenommen.
In der Popmusik werden solche Geschichten oft erzählt: Wie und wo ein Album aufgenommen wurde, gehört zum Kunstwerk. Die Beatles entdecken ihren Sound mit dem Produzenten George Martin in den Abbey Road Studios. David Bowie nimmt mit Brian Eno in den Westberliner Hansa Studios auf. Radiohead spielen den Welterfolg „OK Computer“ in einer südenglischen Villa ein, man hört die Akustik der großen Räume – und angeblich auch die Einsamkeit.
Eine Geschichte aus dem Frankfurter Allgemeine Quarterly, dem Zukunftsmagazin der F.A.Z.
Dieses Prinzip auch auf die Klassik zu übertragen, ist das Verdienst von Julius Asal und seiner Plattenfirma Deutsche Grammophon. Letztere leistet sich immerhin einen Produzenten, den Berliner Christian Badzura, der manchmal mitkomponiert und -arrangiert, der sich aber vor allem vor einer Produktion mit einfühlt, was in einem Künstler stecken mag. Das erste Album von Julius Asal bestand noch aus Stücken von Domenico Scarlatti und Alexander Skrjabin, interessant ausgewählt, normal eingespielt.
Danach dann soll es etliche Treffen gegeben haben, bei denen Asal mit Badzura diskutierte, Stücke anspielte, ausprobierte, und plötzlich fiel auf: Dieser Pianist kann improvisieren. Was im Jazz normal sein mag, ist in der Klassik absolut unüblich – sogar die Kadenzen in Klavierkonzerten, also die Teile, in denen sich einst das Piano austoben durfte, werden heute eigentlich immer in alten Fassungen gespielt, nie spontan erfunden. Diese Kunst holt Asal nun zurück. Das wurde ein integraler Bestandteil der neuen Platte.
Ein Konzeptalbum der Klassik
Über die Plattenfirma entstand der Kontakt zu Rick Rubin, der ein Konzert für eine private Feier wollte. Asal kam, spielte Brahms und Mendelssohn. „Rick zu treffen, war überraschend entspannt“, sagt Asal. „Man steht vor einem, der über Musik nachdenkt und nichts in Schubladen packt. Und er hat eine eigene kleine Kapelle, die phantastisch klingt.“ Nach dem Konzert soll Rubin gesagt haben: „Nehmt doch hier auf.“ Zwei Fabbrini-Steinway-Flügel wurden in die Kapelle geschafft, frisierte Luxusklaviere, die sich dem Sound des 19. Jahrhunderts annähern, aber die Klarheit von heute behalten. Noch aufwendiger und teurer geht es nicht.
Rubin produzierte nicht mit, aber er kam vorbei, setzte sich dazu, hörte aufmerksam hin. „Wenn er Musik hört, hat man das Gefühl, er meditiert“, sagt Asal. „Er empfängt die Musik wie ein Medium, als würde sie über einen Satelliten kommen.“ Seine Anwesenheit, sein Anwesen, das alles sei Teil des Projekts geworden: „Er war immer ganz unprätentiös, hielt sich im Hintergrund, aber ohne ihn wäre es nicht diese Aufnahme geworden.“ Daher heißt dieses Album, das einmal als „Hommage à Ravel“ geplant war, nun „Siena Tapes“. Es ist eine echte Seltenheit: ein Konzeptalbum der Klassik.
Eine Hommage an Ravel ist es trotzdem geworden. Asal nennt den Franzosen einen „wahnsinnig großen Komponisten“, der ihn lange begleitet habe. Ravel ist ein selten gespielter Komponist. Von seinen Klavier-Solowerken ist nur „Gaspard de la nuit“ bekannter, eine komplexe Suite in drei Teilen, die Asal aber gar nicht mit aufgenommen hat. Sondern so schöne wie selten gespielte Stücke: neben dem „Prelude“ die „Jeux d’eau“ und „À la manière de Borodine“. Wasser ist das Thema der Stücke, wenn es in klassischer Musik überhaupt so etwas wie ein Thema gibt. Asal spricht auch davon, dass er Dinge in der Musik suche, die „streng genommen auch von Ravel notiert wurden“, aber nicht so „an der Oberfläche schwimmen“, untere Schichten des Brunnens, verdeckte Strömungen: „so wie das Meer ja auch etwas kälter unten ist, wenn man hineinschwimmt“.
Dazwischen hört man immer wieder Stücke, die er „Cascades“ nennt, freie Improvisation, sie klingen bei jedem Konzert anders. „Ich wollte diese Musik für unsere Ohren übersetzen. Etwas finden, das die Musik heutige Luft atmen lässt, sodass sie im Moment neu entstehen darf.“ Ravel kommt ihm dabei entgegen. Anders als Haydn oder Schubert schreibt er zu einer Zeit, in der die damals moderne Musik sich schon immer wieder aus sich selbst heraus erklären muss. Dabei helfen die Improvisationen nun, sie sind eine Einladung, sich ganz einzulassen. Am Ende des Albums schiebt sich plötzlich ein Synthesizer-Ton hinein, schwillt an, bleibt stehen, genau da hat die Schallplatte einen Sprung, sodass das Klangphänomen unendlich stehen bleibt. Das könnte ein Produktionsfehler sein auf der ansonsten glasklaren Platte, die der Redaktion zum Testhören vorlag. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass es ein gewolltes Spiel ist, um den Klang und das Hören weiter herauszufordern – wie alles an diesem Album.

vor 8 Stunden
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