Auf der Suche nach Dritten Orten. Jenseits von Demokratielaboren und Media-Markt-Filialen. Nach Orten, die sicher sind. Sicher vor dem verheerenden Hauch der Zeit. Sicher vor dem kategorischen Imperativ der Veränderung.
Der Mensch, gerade wenn er von einer vorweihnachtlichen Ach-Stimmung ergriffen wird, sucht nach Halterungen für sein wirres Inneres, für seine Gedanken und Gefühle, die sich so schwer festlegen und ordnen lassen. Es ist bei dem unüberschaubaren Wust an Dingen, die uns andauernd durch den Kopf gehen, eigentlich ein ziemliches Wunder, dass wir trotzdem jeden Tag aufstehen und loslaufen, dass wir unsere Geschäfte machen und Termine einhalten, miteinander Worte wechseln und manchmal sogar Witze machen können. Das können wir nicht von allein. Das können wir nur, weil uns etwas hält. Zusammenhält, will man fast sagen.
Riskante Angelegenheit
Der Mensch ist nicht allein sein kulturell geprägter Wille, er wird auch gehalten von den Orten, die ihn umgeben, die ihm täglich den Weg weisen, seine Vorstellung von Ordnung, Sicherheit und Weltwahrnehmung bestimmen. Deshalb ist der Abriss von erbauter Struktur auch immer eine riskante Angelegenheit – weil damit einher die Verletzung jenes so empfindlichen Gefühls von Gewohnheit und Zusammenhang geht.
Vielleicht ist der Ort deshalb gerade eines der unterschätzten politischen Felder. Die Initiative der brandenburgischen CDU zum Erhalt von Dorfgaststätten, deren Zahl in den vergangenen Jahren um ein Zehntel zurückgegangen ist, mag nur auf den ersten Blick bieder und belanglos erscheinen. Unter der Überschrift „Tradition und Heimat fördern“ schlägt der Antrag vor, mit einer Fördersumme von 7,5 Millionen Euro kleine Gaststätten, Kneipen, Bars, Cafés und Gasthöfe zu unterstützen.
Zur Begründung heißt es: „Dorfgaststätten sind das Rückgrat des gesellschaftlichen Zusammenhalts im ländlichen Raum. Sie sind weit mehr als bloße Wirtschaftsbetriebe. Sie sind Treffpunkte, Kommunikationszentren, Veranstaltungsorte und sind Teil der Daseinsvorsorge. In vielen Dörfern sind sie dabei der letzte öffentliche Ort… Ihr Erhalt ist kein Nebenschauplatz, sondern eine Kernaufgabe verantwortungsvoller Landespolitik.“
Orte ohne Eintrittsvorgaben
Im Kern entpuppt sich die Sorge um die Gaststätten im Land mithin als eine um die Bereitstellung von Orientierungspunkten für den Lebenssinn. In der Hinsicht, dass Menschen, denen die Räume genommen werden, Gefahr laufen, ihren Halt und bald darauf auch ihre Haltung zu verlieren.
In der populären Aneignung soziologischer Theorien hat seit einiger Zeit das Konzept der „Dritten Orte“ Konjunktur. Also jener erstmals vom amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg 1989 in seinem Buch „The Great Good Place“ vorgestellten Areale der Gemeinschaft, die sich vom ersten Ort der Familie und vom zweiten Ort des Arbeitsplatzes durch ihre „Neutralität“ und „Interaktionsweise“ unterscheiden.
Es sind Orte ohne Eintrittsvorgaben, die sich idealerweise über das herrschaftsfreie Gespräch zwischen Menschen definieren und unkompliziert zugänglich sind – Gemeindezentren und Bäckereien mit Sitzgelegenheiten zum Beispiel, aber auch Buchhandlungen, Friseurläden, Bibliotheken und eben Kneipen. Orte, die das Vertrauen in die Bindungskraft einer Gesellschaft fördern und ihren Zusammenhang dem Einzelnen vor Augen führen. Orte, die die Begegnung zwischen Menschen, die sich sonst nicht träfen, fördern und damit zu einem vitalen Begriff vom Politischen beitragen.
Demokratie vor Ort: Blick auf eine brandenburgische GaststätteOmer MessingerInsbesondere in einem historischen Umbruch, wie wir ihn gerade erleben, in dem Menschen sich immer stärker als unmündige Kunden großer Konzerne und immer weniger als auch politisch entscheidungsbefugte Bürger empfinden, kommt der Wahrnehmung des physischen Raumes eine nahezu heilende Bedeutung zu. Geht es dabei im Grunde doch um die Frage, wie wir die Strukturrevolution unserer Öffentlichkeit aushalten können.
Gemeinhin wird ein solcher dieser Ansatz als Ausdruck linksliberaler Sorgfalt und sozialdemokratischen Engagements. Ein bisschen abgestandener Wohlfahrtsgeruch hängt in der Luft, wenn die Rede von „Niederschwelligkeit“ und „Begegnungszentrum“ ist. Aber: Es gibt auch Dritte Orte für die oberen Zehntausend und jene, die in diese Kreise hinein wollen. Für die, die mit dem Gefühl leben, andere leiten und sich mehr als andere leisten zu können. Die über das Land und seine Leute aus der Distanz nachdenken und deren Meinung mehr Macht hat als die von anderen. Dass auch solche Menschen Dritte Orte brauchen, und vielleicht gerade sie, wird oft übersehen.
Ein Ort verlässlicher Dauer
So ein Dritter Ort ohne Wohlfahrtsgeruch ist beispielsweise die Bar in gehobenen Hotels. Im Zuge der aufkommenden Cocktail- und Hotelkultur im späten 19. Jahrhundert entstanden, zeichnet sich dieser Ort seit jeher durch eine zur Schau gestellte Gelassenheit aus. Hier kehren Menschen ein, die neu in der Stadt sind, meistens nur auf Durchreise, oft allein, mitunter zum erotischen Abenteuer bereit. Die Hotelbar ist ein Transitort für Menschen, die eigentlich immer etwas vorhaben, aber für den Moment einmal alles auf sich zukommen lassen wollen. Ein Raum, in dem die Zeit und ihre Berechnung eine untergeordnete Rolle spielt.
Meistens sitzt man spät abends oder nachts dort. Die Hotelbar ist ein Ort der verlässlichen Dauer. Hier hat sich seit ihrer Erfindung nicht viel verändert. Es geht darum, bequem zu sitzen und etwas Gutes zu trinken. Ein bisschen Musik zu hören, ins schummrige Licht zu schauen, sich zu unterhalten und vielleicht jemanden Ungewöhnliches zu treffen.
Immer schon waren Hotelbars Orte, in denen sich die Wege von Geldleuten und Geistesmenschen kreuzten. Als eine der ersten Hotelbars weltweit gilt die „Ritz Bar“ im 1898 eröffneten Pariser Ritz Hotel. Zunächst nur für Männer zugänglich, die sich dort nach erfolgreichen Arbeitstagen lässig auf die Schultern klopften, entwickelte sich die Bar bald zu einem Ort der erotischen Anziehung und des schöngeistigen Beiprogramms: Hemingway, Proust, Picasso und dann auch Coco Chanel oder Zelda Fitzgerald trafen sich hier, um ihren Status zu markieren und eine flirrende Aura zu verbreiten, von der wiederum die Gäste aus den Zirkeln der Macht profitierten. Bis heute zehren Hotelbars von der suggestiven Vorstellung, dass irgendein bedeutender Künstler hinten in der Ecke mit einem Gin Tonic in der Hand an einem Romanentwurf oder einer Bildskizze arbeiten könnte.
Legendärer Ort: Außenansicht des „Ritz Bar“GettyHotelbars sind aber eben auch Dritte Orte in dem Sinne, dass hier Menschen in einem von der Aura großer Vorgänger geprägten Raum aufeinandertreffen, die sich möglicherweise sonst nicht getroffen hätten. Es ist ein zum Gespräch verführender Ort, in dem die Bereitschaft, das große Ganze zu betrachten und zu bewerten, mit jedem geleerten Glas steigt. Auch ein Ort, an dem man die Frage danach, wie ein glückliches Leben zu führen sei, möglicherweise mutiger beantwortet als in der Starbucks-Filiale.
In Wolfsburg gibt es nicht nur Volkswagen und ein grandioses Kunstmuseum. Dort gibt es auch die beste Hotelbar Deutschlands. Eben hat der renommierte Forbes Travel Guide die „Newman’s Bar“ dazu ernannt und sie damit aufgenommen in die erste Liga, in der ansonsten erhabene Etablissements in New York, London, Tokio oder Paris spielen. Die beste Hotelbar Deutschlands ist also in der niedersächsischen Autostadt beheimatet, im dortigen Ritz-Carlton, jenem vor 25 Jahren eröffneten Luxushotel, dessen flamboyante, in die Gewässer der Aller übergehende Poolanlage vor dem denkmalgeschützten Volkswagen-Kraftwerk man beim Vorbeifahren aus dem Zugfenster nicht übersehen kann.
Eng verflochten mit ihrer Umgebung
Die Bar ist nach dem legendären New Yorker Fotografen Arnold Newman benannt, dessen Originalporträts berühmter Persönlichkeiten wie Kennedy, Picasso oder Dalí hier dem Besucher den Weg weisen. Newman revolutionierte die Kunstform des Porträts, indem er Menschen in ihren eigenen Lebens- oder Arbeitsräumen statt in neutralen Studios aufnahm. Er erkannte die bewusstseinsprägende Rolle von Räumen und fand mit seiner Art der „environmental portraiture“ eine Würdigung des Umstands, dass Menschen nie nur autarke Persönlichkeiten, sondern stets eng verflochten mit ihrer Umgebung sind.
Die Umgebung der nach ihm benannten Bar in Wolfsburg wirkt auf den ersten Blick einschüchternd surreal: Eine Unmenge von stilisierten, cognacfarbenen Glasröhren dekoriert die gewölbten Wände und erinnert damit an die Zeit der Prohibition in Amerika, als Flaschen so verdächtig waren, dass Menschen sich alle möglichen Auswege einfallen lassen mussten, um trotzdem in den Genuss von Alkohol zu kommen. Keine einzige echte Flasche ist in der besten Bar Deutschlands zu sehen – dafür bekommt man einen Gin Tonic mit flambierter Orangenschale und Wasabi-Nüsse aus Übersee. Goldene Netzvorhänge deuten die Möglichkeit von Séparées an, tiefe Sessel halten den Unruhigen zur Gelassenheit an.
Sanfte Dringlichkeit
Aber das Entscheidende in diesem vom bekannten Designer Elliot Barnes gestalteten Raum, das alles dominierende und zusammenführende Wahrzeichen dieses Dritten Ortes ist der Flügel. An ihm sitzt ein Ray-Charles-Double, das wirklich Ray heißt und wirklich blind ist. Immer wieder spielt Ray Ghiorgis hier in der Bar und heilt damit die aufgeschreckten Seelen jener Hotelgäste, die um ihn herumsitzen. Mit sanfter Dringlichkeit finden seine Finger die Tasten auf dem Klavier, während sein Kopf ganz stillhält. Nur manchmal ist es, als würde ein leichtes Schmunzeln über seine Lippen laufen, dann aber kehrt schnell wieder jener erhabene Ausdruck des blinden Sehers auf sein Gesicht zurück. Ein Ausdruck, der von Fernweh und Sehnsucht zu erzählen scheint, von glücklichen Tagen und verlorener Hoffnung.
Wer die Geschichte dieses Mannes kennt, wird von seinem Spiel auf besondere Weise berührt: Durch eine Windpocken-Epidemie im Alter von sieben Jahren erblindet, konnte Ray dank der Vermittlung des Kaisers von Äthiopien im Kindesalter eine Blindenschule besuchen und begann dort, sich das Klavierspielen beizubringen. 1977 verließ er seine Familie und kam nach Deutschland, wo er erst als Keyboarder sein Glück versuchte und später eine staatlich anerkannte Ausbildung zum Klavierstimmer in Braunschweig machte. Bald aber wurde Ray zum gefragten Barpianisten und musikalischen Begleiter offizieller Staatsbesuche, etwa von Queen Elisabeth II. Heute ist Ray in seinem Heimatland eine Berühmtheit.
Der blinde Seher: Ray Giorgis in der Wolfsburger Newman's BarLinna HenselDavon spürt man auch hier in Wolfsburg etwas. Selbst die jungen Start-up-Boys mit den Sneakern dort drüben halten kurz inne, wenn Ray ein neues Stück anfängt. Die Sets dauern ungefähr eine halbe Stunde, dann schaut Ray für einen Moment Hilfe suchend auf, ruft leise nach seinem Sohn, der irgendwo im Halbdunkel wartet, um dem Vater jetzt beim Aufstehen zu helfen und ihn an die Bar zu führen. Dort steht Ray dann für eine gute Viertelstunde und trinkt ein Glas – niemand traut sich, ihn anzusprechen, aber alle bewundern ihn.
Alle, das sind ungefähr zwanzig Menschen, die an diesem Abend gemeinsam in der Newman’s Bar sitzen. Einige Liebespaare sind dabei, ein paar prollige Neureiche, zwei alte Freunde und auch ein Alleinstehender. Ohne aufs Handy zu schauen, sitzt der in seinem Sessel und schaut auf den leeren Sessel gegenüber. Der Barkeeper, der aus Wien kommt und einen leichten Schmäh in die norddeutsche Tiefebene bringt, begrüßt ihn mit einem Schlag auf die Schulter, ein kleines Gespräch schließt sich an. Später setzen sich zwei Frauen zu ihm, die sonst keinen Platz mehr finden, noch später tanzen sie sogar kurz miteinander, als Ray voller Inbrunst „Hit the Road Jack“ spielt.
Verbrüderungen und Flirtversuche
Als der Pianist dann irgendwann geht, brandet Applaus auf. „Take care“ ruft er und verteilt dieses so geläufig gewordene Schutzwort wie einen heilenden Segen in alle Richtungen. Mit Ray geht auch die Aura. Jetzt wird wieder lauter gelacht, großspuriger bestellt. Jetzt drehen sich die Gespräche wieder wie seit je um Geld und um Macht. Der wirtschaftliche Niedergang des Landes wird beschworen, die politische Lage „interessant“ gefunden. Es kommt zu Verbrüderungen und Flirtversuchen, aber Telefonnummern werden nicht getauscht.
Und doch, scheint es, als habe Rays Spiel Spuren hinterlassen. Als habe seine Sanftheit und Sinnlichkeit eine Wirkung auf die abgeklärten Gemüter seiner Zuhörer gehabt. Wer jetzt geht, lächelt zumindest kurz in die Runde, um sich von den anderen zu verabschieden.
Ein Abend, den jeder auch in seiner eigenen Wohnung oder in seinem Hotelzimmer hätte verbringen können. Vor dem Bildschirm. In der Blase. Stattdessen hat man zusammen „Blue Moon“ gehört und in das Gesicht eines blinden Sehers geschaut. Und vielleicht hat der ein oder andere dabei doch an etwas gedacht, woran er sich sonst zu denken verbietet: eine alte Liebe, seinen kranken Vater oder einen verloren gegangenen Freund.
Und über diesen Gedanken sind vielleicht auch die mächtigen oder sich mächtig fühlenden Männer im Raum ein klein wenig weicher geworden, also genau das, was sich unser Vizekanzler zu Recht so sehr wünscht: „mehr sensible Männer“ – und wer weiß, vielleicht treffen diese hier morgen ja wirklich eine etwas bessere Entscheidung und schauen, mit Rays Gesicht vor Augen, ein bisschen gefühlsklüger auf diese Welt.

vor 2 Tage
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