Geht es auf das Jahresende zu, hagelt es von allen Seiten „Best of“-Listen. Die beliebtesten Bücher, die meist gehörten Songs des Jahres. Ebenso populär wurde in den letzten Jahren das „Wort des Jahres“. Üblicherweise werden neue Begriffe gewählt, die durch technologische Entwicklungen Eingang in die Sprache fanden. So entschied sich in Großbritannien jüngst die Universität Oxford für „rage bait“ (Wutköder), einen Begriff, mit dem in der virtuellen Welt Inhalte bezeichnet werden, die bewusst provozieren sollen. Auch die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte bei Ihnen, genau wie in England, einen neuen Begriff zum Wort des Jahres: KI-Ära. Was glauben Sie, worauf fiel wohl die Wahl in der Türkei? Auf einen infolge technologischen Fortschritts neu eingeführten Begriff? Leider nicht. Wir entschieden uns dieses Jahr für eine vom Palastregime verbreitete alte Angst: „Ich werde verhaftet!“
Im Gegensatz zu anderen Ländern wählten bei uns allerdings nicht Experten das Wort des Jahres, sondern die Bürger. In einer Umfrage des populären Online-Nachrichtenportals T24 einigten sich mehr als 1000 User auf diese Phrase. Sie bringt eine Sorge zum Ausdruck, die alle Gesellschaftsschichten umtreibt. Verhaftung drohte früher nur Aktivisten, oppositionellen Politikern oder Journalisten. Heutzutage aber springt uns morgens nach dem Aufwachen diese Phrase gleich dutzendfach aus den sozialen Medien an. Wer von der Polizei aus dem Haus geholt wird, setzt in aller Eile, bevor das Handy beschlagnahmt wird, diese Nachricht ab, damit die Angehörigen Bescheid wissen: „Ich werde verhaftet!“
Bülent MumayEkran ResmiDas Palastregime fühlt sich von jedem bedroht, kaum dass er eines seiner grundlegenden demokratischen Rechte ausübt. Erdoğan hat höllische Angst davor, dass Proteste sich zu Massenprotesten ausweiten und zu einem kollektiven Phänomen werden. Deshalb unterdrückt seine Justiz noch die geringste Missfallensäußerung brutal. Ich nenne Ihnen einige Beispiele allein aus der vergangenen Woche, dann entscheiden Sie, ob „Ich werde verhaftet“ zu Recht das Rennen gemacht hat. In meinen Briefen habe ich bereits mehrfach geschildert, wie Erdoğans Politik die Armut im Land verschärft hat, sodass Ihnen zweifellos gegenwärtig ist, welche Zustände bei uns herrschen. Nun wurden zwei Personen verhaftet, weil sie Flugblätter mit der Forderung nach Erhöhung des Mindestlohns verteilt hatten. Mit den umgerechnet rund 350 Euro muss nahezu die Hälfte der Bevölkerung auskommen. Das Vergehen der Verhafteten bestand einzig darin, mehr Geld für das halbe Land zu verlangen.
Im Sammeltaxi geschimpft, im Sammeltaxi verhaftet
In meinem letzten Brief hatte ich berichtet, dass aufgrund der Armut Kinderarbeit sehr verbreitet ist. Allein im laufenden Jahr starben mehr als achtzig Minderjährige bei Unfällen auf der Arbeit, zu der sie als Beitrag zum Familieneinkommen genötigt waren. Als nun sechzehn junge Leute anlässlich eines Gipfeltreffens zur beruflichen Bildung gegen diese Zustände protestierten, wurden sie verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen, die Teppiche des Hotels, in dem die Veranstaltung stattfand, beschädigt zu haben. Im Zusammenhang mit dem Tod minderjähriger Arbeiter hingegen gab es bisher keinerlei Festnahmen.
Bild: Emir Özmen, Bearbeitung F.A.Z.
Seit 2016 berichtet Bülent Mumay in seinem „Brief aus Istanbul“ über die politischen Entwicklungen in der Türkei und ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben.
Eine Auswahl von Beiträgen unserer Kolumne ist bei Frankfurter Allgemeine Buch erschienen.
Selbst Personen, die schnell mobil unterwegs sind, entgehen der Palastjustiz nicht. Nachdem ein Autofahrer in einer anatolischen Stadt den Weg nicht für den Wagen eines Abgeordneten der Regierungspartei AKP frei gemacht hatte, suchten Polizisten ihn zu Hause auf, schlugen und verhafteten ihn. Andernorts wurde jemand angezeigt, weil er in einem Dolmuş Erdoğan beleidigt habe. Motorradpolizisten stoppten das Sammeltaxi, holten den Beschuldigten heraus und nahmen ihn fest. Auch die Kultur ist vom Wort des Jahres betroffen. Auf einer Kunstmesse in Istanbul ließ die Staatsanwaltschaft zunächst eine Skulptur konfiszieren, anschließend kamen der Künstler und zwei für die Ausstellung verantwortliche Personen ins Gefängnis. Ihnen wird Volksverhetzung vorgeworfen.
Ein Youtube-Kommentar als tätlicher Angriff
Ohne Kommentar gebe ich eine Äußerung aus einer Rede Erdoğans wieder, die er am gleichen Tag hielt, als Künstler und Skulptur verhaftet wurden: „Egal auf welchem Gebiet wir Freiheiten erweitert haben, gleich wurde die Angst geschürt: ‚Um Gottes willen, das wirft uns zurück!‘ Und? Ist die Türkei etwa zurückgefallen?“
Die kleinste Kritik auf der Straße, im Verkehr, in der Kunst straft die Justiz hart ab, Kriminellen gegenüber aber ist sie recht tolerant. So wurden Täter eines Vergewaltigungsversuchs in einer Gasse nahe dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul zwar zu fast neun Jahren Haft verurteilt, kamen aber nach zwei Monaten wieder frei. Der Fernsehjournalist Fatih Altaylı hingegen, der nach Kritik an Erdoğan wegen „tätlichen Angriffs auf den Staatspräsidenten“ zu vier Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt worden war, sitzt weiter hinter Gittern. Selbstverständlich hatte Altaylı keinen tätlichen Angriff unternommen, vielmehr hatte er einen kritischen Kommentar auf Youtube abgegeben. Ein Mann aber, der tatsächlich handgreiflich geworden war, er hatte den Vorsitzenden der Oppositionsführerin CHP vor laufenden Kameras mit Fäusten attackiert, kam genau wie die Täter des versuchten sexuellen Übergriffs nach wenigen Monaten auf freien Fuß.
Ein bedrohlicher Hinweis
Das Palastregime, für das Kritik gefährlicher ist als Vergewaltigung, bereitet jetzt eine weitere De-facto-Amnestie vor, die diese Haltung noch deutlicher macht. Wie in der Vergangenheit bereits viermal in ähnlicher Form geschehen, werden in den kommenden Tagen rund fünfzigtausend Verurteilte freikommen, die Mord oder Körperverletzung, Drogenhandel, Betrug oder Diebstahl begangen oder den Bau maroder Häuser zu verantworten haben, durch deren Einsturz bei Erdbeben Menschen ums Leben kamen. Für Politiker, Aktivisten und Journalisten hingegen, die Erdoğan verhaften ließ, weil er sie als Bedrohung für seine Macht betrachtet, gilt die Amnestie natürlich nicht.
Mittlerweile sitzen in türkischen Gefängnissen mehr als 433.000 Häftlinge ein, weil die Justiz jeden Kritiker des Palastregimes aufs Korn nimmt und die AKP-Regierung, seit 23 Jahren an der Macht, das Land in einen Hotspot von Kriminalität verwandelt hat. Das sind beinahe neunmal so viele Häftlinge wie in Deutschland mit seiner vergleichbaren Einwohnerzahl. Doch nun glauben Sie nicht, die Amnestie für Mörder und Diebe erfolge, um die Auslastung der Haftanstalten zu verringern. Es ist vielmehr die Vorbereitung für neue Operationen der Regierung, die von Tag zu Tag härter durchgreift, gegen die Opposition. Hätte sie sonst beschlossen, den rund eine Autostunde von Istanbul entfernt gelegenen Gefängniskomplex Silivri weiter auszubauen, den größten Europas, wie sie sich rühmt?
Erdoğan hat keineswegs, wie oben zitiert, die Freiheit in unserem Land erweitert. Erweitert hat er bloß Gerichte und Haftanstalten. In Silivri soll nun ein Gerichtssaal gebaut werden, der Platz für 2295 Personen bietet und damit der größte der Türkei sein wird. Zugleich ist dieser Bau ein bedrohlicher Hinweis darauf, was uns in nächster Zukunft blüht. Allem Anschein nach wird die Popularität der Phrase „Ich werde verhaftet“ auch im kommenden Jahr nicht abnehmen. Ebenso wenig wie die von Platz zwei und drei der Umfrage zum Wort des Jahres: Perspektivlosigkeit und Armut.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

vor 4 Stunden
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