Mit seiner teilnehmenden Beobachtung der „Bild“-Redaktion hat Günther Wallraff 1977 nicht nur über die Arbeitsweise des Blattes aufgeklärt, er hat damit auch die Vorstellung etabliert, dass man das Innenleben dieser Zeitung nur mit dem Mittel der Undercover-Recherche erschließen kann. Heute verteilt offenbar der Chefredakteur Einladungen. Der Medienwissenschaftler Volker Lilienthal jedenfalls bekam eine solche im Jahr 2019 von dem damaligen „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt und nahm sie an. Im Jahr 2020 besuchte er die Redaktion für ein offizielles Forschungsprojekt der Universität Hamburg, beobachtete Konferenzen und betrieb „Feldforschung“. Außerdem machte er Interviews mit 43 Mitarbeitern „aus drei Hierarchieebenen“. Die Befragten durften die Interviews autorisieren und blieben anonym, der Chefredaktion wurden sie nicht vorgelegt, und es fand, so Lilienthal, auch keine Einflussnahme statt.
Herausgekommen ist nach Auswertung der 1022 Seiten Interviewtranskripte eine „Fallstudie zum Misslingen von Innovation“, so der Untertitel der 25-seitigen Studie, die vergangene Woche erschien. Denn in jenem „Jahr des Chaos“, zu Beginn der Corona-Krise, war das Redaktionsklima vor allem vom Versuch bestimmt, „Bild“ als eigenen Fernsehsender aufzubauen. Aus den Gesprächen leitet Lilienthal nun die Ursachen dafür ab, warum dieses Projekt scheiterte. Da kam so einiges zusammen: eine schlechte Vorbereitung, Personalmangel und eine unzureichende Fortbildung, unklare Zuständigkeiten, schlecht abgestimmte Arbeitsabläufe, interne Konkurrenzen zwischen Print-, Online- und TV-Kollegen sowie eine „erratische Allokation von Ressourcen“ gehören zu den Problemen, über die die Befragten klagen. „Ich hatte als Moderatorin einen Tag eine Schulung“, kritisiert etwa eine Befrage, ein anderer sagt: „Wir lernen jetzt quasi seit einem Jahr on air.“
„Harsch, autoritär und demotivierend“
Kritisch sahen einige „Bild“-Mitarbeiter aber auch Reichelts Idee, überhaupt einen Sender für aktuelle Nachrichten aufzubauen: „Es gibt so eine Breaking-News-Bereitschaft, die den ganzen Tag davon ausgeht, es könnte jederzeit eine Slack-Nachricht von Julian kommen: Wir gehen on air. Das ist auch so seine Idealvorstellung, er möchte am liebsten einen Button haben, da haut er drauf, und dann gehen überall die Lampen an, und alle wissen, er will eine Sendung“, beschreibt einer das Konzept. Daran zweifelt selbst ein Mitglied der Chefredaktion: „Wir sind halt eben nicht in den USA, wo dann das dritte Einkaufszentrum noch irgendwie einen Überfall erlebt.“
Am Beispiel einer stundenlangen Liveübertragung von der Räumung eines besetzten Hauses in Berlin-Friedrichshain schildert eine Person, wie dadurch der eigentliche Charakter der Boulevardberichterstattung verloren gehe: Statt zu „emotionalisieren, personalisieren, verdichten“, werde ein Ereignis „wie ein Kaugummi“ gedehnt, die Folge sei „eine langweilige Berichterstattung“.
Jenseits der Analyse des Scheiterns von „Bild-TV“ ist Lilienthals Studie aber auch ein einzigartiges Psychogramm von Julian Reichelt. Sein Führungsstil wird mehrfach als „harsch, autoritär und demotivierend“ beschrieben. Er sei ein „absoluter Mikro-Manager“, der, „je später der Tag wird, immer cholerischer wird und immer mehr Druck ausübt“. Der Satz „Julian will das so und so“ oder „Julian möchte das so“ sei in der Redaktion eine Art „wirkmächtige“ Redensart geworden, wie mehrere Befragte übereinstimmend berichten. Es sei eine „Gruppendynamik“ entstanden, bei der es „vorrangig darum ging, den Chefredakteur bei Laune zu halten“, schreibt Lilienthal. Die Haltung, mit der Reichelt das Projekt von „Bild-TV“ anging, fasst der Forscher mit einem Schopenhauer-Zitat zusammen: „Die Welt als Wille und Vorstellung“.

vor 9 Stunden
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