Es las sich wie ein Aprilscherz: Zehn Tage nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis gab Nicolas Sarkozy bekannt, dass am 10. Dezember, pünktlich zum Weihnachtsgeschäft, sein 200 Seiten umfassendes Gefängnistagebuch, „Le journal d’un prisonnier“ erscheinen würde. Die Reaktionen schwankten zwischen Ungläubigkeit und gesellschaftstherapeutischem Humor. Einer der zahlreichen Witze, die im satireliebenden Frankreich nach dieser Ankündigung kursierten, zeigte den ehemaligen Staatspräsidenten hinter Gittern, darüber die Aufschrift: Angesichts der vielen Vorbesteller hoffe der Verlag auf eine neuerliche Verurteilung des Autors, sprich: auf Band 2. Dennoch blieb vielen das Lachen im Halse stecken. Nicht nur, weil praktisch zeitgleich die vom deutschen Bundespräsidenten Steinmeier erwirkte Begnadigung des wegen seiner politischen Ansichten inhaftierten Boualem Sansal das ungeteilte Medieninteresse in Frankreich verdient hätte. Das mag man mit viel Nachsicht noch als Mangel an Feingefühl oder Eleganz verbuchen. Aber mit seinem Gefängnistagebuch macht Sarkozy nicht nur der Wahrheit den Prozess, er verspottet auch sämtliche literarische Vorgänger.
Einmal abgesehen von der Frage, wann dieser Text tatsächlich verfasst worden ist, und von wem (oder was), ist zunächst einmal seine Verlagsheimat von Interesse. Fayard, lange als seriöse Adresse für literarische Biografien und Weltliteratur von Semprún, García Márquez oder Nabokov bekannt, ist seit 2023 im Besitz des französischen Pressemoguls und Oligarchen Vincent Bolloré. Der erzkatholische Bretone, der mit dem Transportwesen, vor allem durch logistische Investitionen in afrikanischen Ländern, zu Geld gekommen ist, kolonisiert seit dem Jahrtausendwechsel zunehmend die französische Presse- und Medienlandschaft und schafft sich allenthalben Sprachrohre für seine rechtskonservativen bis rechtsextremen Überzeugungen. Zu seinem Portfolio zählen unter anderen mittlerweile „Paris Match“, „Le Journal du dimanche“, der Radiosender Europe 1, der Fernsehkanal CNews, wo der rechtsnationale Éric Zemmour zur besten Sendezeit polemisiert, sowie der Hachette-Konzern, zu dem auch Fayard gehört.
Ein ganz privater Abschied auf dem Weg zum Gefängnis: Nicolas Sarkozy umarmt Carla BruniAFPDort wurde den konsternierten Mitarbeitern, trotz gegenteiliger Beteuerungen im Vorfeld, im Sommer 2024 die linientreue, für ihr hartes Management berüchtigte Lise Boëll als neue Verlegerin vorgesetzt. Bei der Ankündigung soll geweint und geflucht worden sein, in der Folgezeit häuften sich die Kündigungen von Mitarbeitern, und auch etliche Hausautoren verließen den Verlag, darunter die Bestsellerautorin Virginie Grimaldi, aber auch maßgebliche Intellektuelle wie Didier Eribon oder Alain Badiou. Natürlich gibt es auch bei Fayard noch Lücken im System und, zumal im literarischen Segment, freidenkerische Lichtblicke, aber die Tendenz zur „Bollorisierung“ ist besorgniserregend. Ökonomisch scheint sich der Verlagsputsch bisher nichts ausgezahlt zu haben.
Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb wartet das jüngste Programm mit drei Politikern auf, die das neue Profil nicht besser verkörpern könnten. Lise Boëll hat aus ihrer früheren Verlagskarriere den Souveränisten Philippe de Villiers sowie Éric Zemmour im Gepäck, die im Oktober 2025 jeweils neue Bücher mit sprechenden Titeln vorgelegt haben: „Populicide“ (Volksmord) und „La messe n’est pas dite“ (Die Messe ist nicht gelesen). Dazu hat Fayard, ebenfalls im Oktober, das zweite Buch des rechtsextremen Jordan Bardella publiziert, der aktuellen Umfragen zufolge als Gewinner der Präsidentenwahlen 2027 dastehen könnte.
Mit „Ce que veulent les français“ (Was die Franzosen wollen) gibt Bardella vor, anhand einer vermeintlichen Vielfalt von Bauern bis Bankern ein Stimmungsbild des Landes einzufangen, reproduziert in Wirklichkeit aber nur das eigene national-konservative Weltbild und profiliert sich als idealer Kandidat. Alle drei Bücher profitieren von einer offensiven, kostenlosen Werbung auf sämtlichen Bolloré-Kanälen. Schon im Vorfeld der Veröffentlichung ist auch Sarkozys Opus natürlich in den Genuss dieser riesigen PR-Maschine gekommen.
Rechte Seilschaften um Nicolas Sarkozy
Bolloré und Sarkozy kennen sich schon lange. Die Öffentlichkeit reagierte befremdet, als sich Sarkozy direkt nach den Präsidentenwahlen 2007 mit seiner Familie auf Bollorés Privatjacht im Mittelmeer von den Strapazen des Wahlkampfs erholte. Der frisch gekürte Präsident antwortete damals auf die Vorwürfe: „Vincent Bolloré ist seit 20 Jahren mein Freund, seit 20 Jahren lädt er mich ein und seit 20 Jahren lehne ich ab. (…) Vincent Bolloré ist einer der großen französischen Industriellen, er hat nie mit dem Staat zusammengearbeitet und macht der französischen Wirtschaft alle Ehre.“ In Wirklichkeit war das luxuriöse Urlaubsgeschenk eine Gefälligkeit des Millionärs für den diensteifrigen Sarkozy, der seinem langjährigen Freund bereits vor seiner Präsidentschaft geholfen hatte, seinen Einfluss in Afrika auszudehnen, und auch im Folgenden manch eine Hafenkonzession für ihn herausschlug. Die Vorwürfe gegen den Konzern häuften sich – Zerstörung des Ökosystems, Kinderarbeit, Korruption, Ausbeutung der lokalen Bevölkerung und vieles mehr.
Nachdem Dauer und Kosten der von Bolloré systematisch angestrengten Gerichtsverfahren jahrelang viele Zeitungen davon abgehalten hatten, entsprechende Ermittlungen in Afrika anzustellen, hat im März 2025 ein panafrikanisches Kollektiv aus fünf NGOs endlich Anzeige gegen den Konzern wegen Hehlerei und Geldwäsche erstattet. Damit ist vorerst womöglich wohl nur die Spitze eines neokolonialen Eisbergs aufgetaucht.
Händchenhaltend: Nicolas Sarkozy und Carla Bruni bevor es ins Gefängnis gehtReutersWer in dieser Seilschaft der Vor- und wer der Nachsteiger ist, scheint nicht immer ganz eindeutig. Klar ist aber, dass Vincent Bolloré in den letzten Wochen sein gesamtes Medienimperium mobilisiert hat, um seinen schwer ins Rutschen gekommenen Freund nach oben zu ziehen. Die Berichterstattung um den Prozess zur Libyen-Affäre, bei dem Sarkozy zu ebenjener Haft verurteilt wurde, die jetzt Gegenstand seines Buches ist, gestaltete sich auf CNews oder Europe 1 durchweg sarkozyfreundlich: Journalisten wie Pascal Praud oder Laurence Ferrari gaben jede kritische Distanz auf und betrieben eine gezielte Desinformation, indem sie wortwörtlich die Argumente des Angeklagten nachbeteten – was er ihnen in seinem Tagebuch nun rührselig dankt. Das Schlimmste daran ist die Verkehrung der Werte, mit der die Unabhängigkeit des Gerichts nachhaltig in Zweifel gezogen wird und das Feindbild einer „Lügenjustiz“ in breiten Teilen der Öffentlichkeit Einzug gehalten hat.
Olivier Mannoni, der sich bereits im Zuge seiner Übersetzung von Hitlers „Mein Kampf“ mit der totalitären Sprache befasst hat, widmet sich in seinem neuen Buch „Coulée brune“ (Braune Brühe) ihrer Verbreitung in der Gegenwart. Neben der bewussten Verkehrung von Begriffen, nennt er als wesentliche Punkte ein binäres Freund-Feind-Denken, das meist von einer wohleinstudierten Körpersprache und systematischen „lexikalischen Unterminierung“ begleitet wird. Dabei blickt Mannoni nicht nur über den Atlantik, sondern nimmt auch die sprachliche Trümmerlandschaft vor der eigenen Haustür unter die Lupe, die „geistige politische Verwirrung“, die in Frankreich im Wesentlichen unter Nicolas Sarkozys Präsidentschaft 2007 begonnen habe.
Schönschreibübungen wie von Erich Honnecker und Egon Krenz
Sarkozy fiel von Anfang an durch markige Behauptungen, eine ungenierte Ausbeutung gegnerischer Argumente und vulgäre Entgleisungen auf – und damit aus einer Rolle, die bisher klar argumentierende, rhetorisch integre Vorgänger ausgefüllt hatten. Seine grob verzerrenden Stellungnahmen während der Libyen-Affäre und die indignierte Miene, mit der er jede Verantwortung von sich wies, können als klassischer Fall von Blame shifting gelten. Bereits als Staatsoberhaupt stilisierte sich Sarkozy gern als Opfer und versuchte, sich eine moralische Immunität zuzulegen. Eine schlaue Strategie in Anbetracht der Tatsache, dass die politische Immunität einen Monat nach Ablauf seiner Präsidentschaft, im Sommer 2012, endete.
Dass ausgerechnet Solschenizyn zu den großen Fayard-Autoren zählt, wäre schon Anlass genug, um sich in Zurückhaltung zu üben und Sarkozys „Gefangenentagebuch“ nicht im Entferntesten mit den Meisterwerken zu vergleichen, die allein im 20. Jahrhundert von Luise Rinser über Antonio Gramsci, Jean Genet bis hin zu Nelson Mandela in Haft oder rückblickend auf diese entstanden sind. Oft unter menschenunwürdigen Umständen, manchmal unter Lebensgefahr, immer als überlebenswichtiges Mittel zur Selbstfindung. Sarkozy reiht sich eher in die Tradition autofiktionaler Schönschreibungen ein, ein literarisch unambitioniertes Genre, dem Politiker wie Egon Krenz oder Erich Honecker huldigten, nachdem Albert Speer es auf der anderen Seite des politischen Spektrums mit seinen „Spandauer Tagebüchern“ zu einer ebenso traurigen wie wirkungsmächtigen Vollendung gebracht hatte.
Eine „in meinem Herzen aufwallende Wut und Empörung“
Auch in Sarkozys Autofiktion geht es um die alles entscheidende Frage: Wer schreibt Geschichte und vor allem wie? „Mit diesem Buch“, heißt es am Schluss, „habe ich meine Gefühle ehrlich und unverfälscht zum Ausdruck gebracht. Ich habe mit niemandem eine offene Rechnung zu begleichen, außer mit der Lüge.“ Die „Lüge“, falls es dieser Übersetzung noch bedarf, meint hier die Entscheidung der Justiz. Der Autor beginnt sein Plädoyer in eigener Sache mit dem Wörtchen „Ich“, das fünf- bis siebenmal pro Seite auftaucht, und endet mit „mein Leben“. In dem langatmigen Dazwischen kommen nicht nur Reue oder kritische Einsichten zu kurz, sondern auch vieles andere. Zum Beispiel der eigentliche Grund für seine Verurteilung, die Libyen-Affäre: „Ich musste vor allem die in meinem Herzen aufwallende Wut und Empörung unterdrücken, sobald ich an diese unglaubliche Verschwörung dachte, die angezettelt worden war, um die finstere Affäre der angeblichen libyschen Finanzierung zu erfinden.“
Zum Beispiel die wahren Opfer, die Angehörigen der 170 Menschen, darunter 54 Franzosen, die 1989 auf dem UTA-Flug 772 bei einem vom libyschen Geheimdienst geplanten Bombenanschlag ums Leben gekommen waren. Zwar erklärt sich Sarkozy von ihren Aussagen vor Gericht „zutiefst erschüttert“, beschuldigt aber schon im nächsten Satz die Familien der Opfer grob, mit Gaddafis Regime eine Entschädigung ausgehandelt zu haben. Auch andere Leerstellen, die man in einer Selbstreflexion erwarten könnte, bestechen durch ihre Präsenz: Kein Wort zu den beiden Weggefährten Brice Hortefeu und Claude Guéant, die den internationalen Terroristen Abdallah al-Senussi, Urheber besagten Flugzeugattentats, 2005 in Tripolis trafen.
Sarkozys Forderung nach härteren Haftbedingungen scheint vergessen
Was also finden die Leser in diesem Weihnachtsbestseller, mit dem der Autor ab sofort auf Lesereise geht? In reichlich Pathos und Kitsch verpackt, einen angeblich unschuldig Verurteilten, der sich selbst in eine Reihe mit Dreyfus, dem Grafen von Monte Christo oder Jesus stellt, sich als Opfer eines „Justizskandals“ und politischer Ränkespiele wie in Balzacs „Menschlicher Komödie“ sieht und erhobenen Hauptes seinem Schicksal entgegengeht: „Der liebe Gott hatte alles gut eingerichtet, denn der Himmel war blau, und die Sonne strahlte (…). Ich sah darin ein Zeichen der Vorsehung. Nicht, dass ich ein regelmäßiger Kirchgänger wäre und schon gar kein vorbildlicher Christ. Doch da ich ein Kreuz zu tragen hatte, musste ich versuchen, mich spirituell weiterzuentwickeln.“ Einen vermeintlichen Garanten des Rechtsstaates, der eine unabhängige Gerichtsentscheidung als massiven Verstoß wertet: „Diese fixe Idee, mich zum idealen Schuldigen zu erklären, lässt den Rechtsstaat in Frankreich kläglich dastehen.“
Von einem, der bisher für härtere Strafen und Haftbedingungen eintrat, liest man über unerquickliche Zustände und neue Anforderungen im Gefängnis: „Ich beschloss, mein Bett zu machen, was keine leichte Aufgabe war, da es mit eindrucksvollen Furnieren an der Wand befestigt war. Die Matratze war nicht nur hart, sondern auch noch erstaunlich schwer! Es war klar, dass sie und ich keine Freunde werden würden!“ Doch zum Glück hindern die misslichen Umstände den Verfasser nicht an tiefschürfenden Gesprächen mit dem Gefängnisseelsorger oder daran, nebenbei Sport, vor allem aber Politik zu betreiben – zumal es sie noch gibt, die wahren Freunde.
Sébastien Chenu zum Beispiel. Der Vizepräsident des rechtsextremen Rassemblement National (RN) ließ dem Inhaftierten wöchentliche Aufmunterungsschreiben zukommen, die „von einer sensiblen, über politische Querelen erhabenen Persönlichkeit“ zeugten. Auch Marine Le Pen zählte bereits während des Prozesses zu den „besten Überraschungen seitens derer, von denen ich es am wenigsten erwartet hatte“. Zum Dank habe er sie angerufen und sie seiner Unterstützung versichert. Zunehmend sentimental stilisiert das Buch die geistige Läuterung des Unschuldigen, der, „wenn ich aus dieser Hölle herauskäme“, nach Lourdes zu pilgern verspricht, „um die Kranken und Verzweifelten zu besuchen“ – am 5. Dezember badete der Verfasser bereits tatsächlich im wundertätigen Wasser.
Auf den letzten Seiten des Buches holt Sarkozy zu einem opulenten politischen Manifest aus: „Viele der heutigen Wähler von Marine Le Pen und Jordan Bardella waren an meiner Seite, als ich noch aktiv in der Politik war. (…) Die Führungskräfte des RN zu beleidigen, bedeutet, ihre Wähler zu beleidigen, zumindest potentiell also auch unsere. Man gewinnt Frankreich nicht, indem man die Franzosen beleidigt.“ Sarkozys Sohn Louis, der im südfranzösischen Menton für das Bürgermeisteramt kandidiert, hat sich unlängst für die Abschaffung von Ampeln im Straßenverkehr ausgesprochen, sein Vater erklärt nun kurzerhand die demokratische Brandmauer gegen den „RN, der keine Gefahr für die Demokratie darstellt“, für obsolet: Freie Fahrt den Rechten.

vor 6 Stunden
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