Salman Rushdie, der Unbeugsame, der Friedenspreisträger des Jahres 2023, hat ein Buch geschrieben, das von Vergebung handelt, aber mehr noch von ihrem Gegenteil: der Rache. Rushdie als Rächer? Ja, tatsächlich, aber der Schriftsteller, der seit dem Mordaufruf der 1989 gegen ihn verhängten Fatwa in ständiger Sorge leben muss und vor drei Jahren nur knapp einem Mordanschlag entkommen ist, nimmt Rache nicht in eigener Sache, sondern stellvertretend für jene, die selbst nicht in der Lage sind, dies zu tun – die Friedfertigen, die Schwachen, die Wehrlosen. Und wer wäre wehrloser als die Toten?
„Die elfte Stunde“ ist ein Buch über Rache und Vergebung, das Alter, den Abschied, den Tod. Es ist ein Buch der Rückblicke und Kassenstürze, ein Buch der bitteren Bilanzen. Aber es ist auch ein Buch über Bücher, über die Literatur, das Schreiben und die unbegrenzten Möglichkeiten, die beide zu bieten haben, wenn ein Autor seiner Erfindungsgabe vertraut und seine Leser dieses Vertrauen mit ihm teilen.
Mehr als einmal lässt Rushdie seine verschiedenen Erzählerfiguren darauf hinweisen, dass manches von dem, was sie berichten, nur schwerlich mit den Gesetzen der Realität in Einklang zu bringen ist. Dann wird es phantastisch, unheimlich, übersinnlich. Dann tauchen Schatten aus dem Nebel auf, spuken Tote herum, ergreifen allegorische Figuren das Wort, und magische Kräfte mischen sich ins Geschehen ein. Aber das ist Wunschdenken, magisches Denken, das sich ereignet in einer Welt, die nichts Märchenhaftes an sich hat und in der die böse Stiefmutter keine Königin ist, sondern nur die skrupellose Frau eines skrupellosen indischen Milliardärs.
Das Psychogramm einer indischen Milliardärsfamilie
„Die Musikerin von Kahani“ ist die zweite der fünf Erzählungen des Buches und folgt auf „Im Süden“, der Geschichte zweier alter Männer, die einander in nachbarschaftlicher Symbiose und Hassliebe verbunden sind. Gemeinsam vertreiben sie sich die Zeit bis zu ihrem Tod, den der ältere von beiden längst herbeisehnt, mit unablässigen Streitereien. Die keineswegs ersehnte Begegnung mit der Jugend erfolgt in Gestalt zweier junger Frauen auf einer Vespa und erweist sich für einen der beiden Alten als todbringend. Auf die private Katastrophe des tödlichen Unfalls folgt die große, zahlreiche Opfer fordernde Katastrophe eines Tsunamis, der die südindische Küste heimsucht. Und wieder bleibt Senior, wie der ältere der Greise genannt wird, verschont und zum Weiterleben verdammt, das Herz vom Schmerz des Verlustes noch verhärteter als zuvor.
Salman Rushdie: „Die elfte Stunde“. Fünf Erzählungen.Verlag„Im Süden“ liest sich wie ein Präludium zu den nachfolgenden Erzählungen: Motive und Gegensatzpaare werden eingeführt und eingebettet in einen Detailreichtum, der ein realistisches Erzählen suggeriert, das indes gar nicht angestrebt wird. In „Die Musikerin von Kahani“ entwirft Rushdie eine scheinbar realistische Welt mit den Namen real existierender Straßen und Stadtviertel, beschreibt einen zum Teil wohl Sri Sri Ravi Shankar und Bhagwan Shree Rajneesh nachempfundenen Pseudoguru, der sich die Taschen füllt mit dem Geld seiner Anhänger, und skizziert das knappe Psychogramm einer indischen Milliardärsfamilie, die aus der Hochzeit ihres Sohnes mit einer berühmten Ausnahmemusikerin ein weltweit beachtetes Medienspektakel macht, das noch einmal übertroffen werden soll, als die Geburt eines Stammhalters bevorsteht. Das Kind stirbt, soll aber auf Geheiß der bösen Stiefmutter die wenigen Tage bis zum der Weltöffentlichkeit verkündeten Geburtstermin im Mutterleib verbleiben. In der Zwischenzeit wird schon einmal eine Liste potentieller neuer Ehefrauen zusammengestellt.
Doch Chandni, so der Name der als Wunderkind herangewachsenen Musikerin, verfügt über geheimnisvolle Kräfte, denen auch ein Milliardenimperium nicht gewachsen ist. Ihre Rache ist fürchterlich: Ohne ein Instrument zu berühren, entfesselt sie eine Musik, die Menschen und Börsenkurse manipuliert und sogar töten kann – im Handumdrehen ist das Imperium zerschlagen und der böse Milliardärsclan ausgelöscht. Auf den ersten Blick scheint es sich bei Chandnis tödlichen Sphärenklängen wohl um Rushdies imaginäre Rache an der Welt der Reichen und Superreichen zu handeln, die er als literarischer Weltstar zur Genüge kennengelernt haben dürfte und denen wohl tatsächlich nur noch mit Superkräften beizukommen ist – oder mit der Steuerfahndung. Aber allen genüsslich ausgebreiteten Klischees, allen Ironie- und Märchensignalen zum Trotz, geht es Rushdie um mehr. Das Phantasma der Todesmusik ist das Phantasma der Rache der Künste an all jenen, die sie auf die eine oder andere Weise erniedrigen und beschmutzen.
Eingetaucht in die eigene Vergangenheit
Es zieht sich ein zeitkritischer, mitunter auch dystopischer Grundton durch diese Erzählungen. Gelegentlich ist von sich ausbreitender ungehemmter Streitlust die Rede oder auch vom „gegenwärtigen Verfall der ethischen Gesellschaft überall auf der Welt“. Was aber soll ein Schriftsteller tun, wenn er feststellen muss, dass Wörter wie „gut“ und „schlecht“, „richtig“ und „falsch“ ihrer Bedeutung beraubt werden und nicht länger in der Lage sind, „eine Gesellschaft zu formen“? Er wendet sich den Übeln der Vergangenheit zu.
„Saumselig“ lautet der Titel der dritten und stärksten Erzählung des Bandes. Sie handelt von einem Schriftsteller namens S. M. Arthur, der eines Morgens aufwacht und zu seiner Überraschung feststellen muss, dass er gestorben ist. Fortan existiert er als immaterielles Ebenbild seines toten Körpers. Er kann sich anziehen, in das immaterielle Ebenbild seines Tweedsakkos schlüpfen, das Haus verlassen, spazieren gehen. Aber den Campus verlassen kann er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Er ist der Gefangene seiner selbst gewählten Zuflucht in einem College, wo er als Ehrenfellow lebt, seitdem sein Debütroman ihn berühmt gemacht hat. Danach hat er nie wieder etwas veröffentlicht. Nun, wir schreiben das Jahr 1971, ist er tot, hat aber noch etwas Dringendes zu erledigen. Unterstützt wird er dabei von der aus Indien stammenden Studentin Rosa, dem einzigen Menschen auf dem Campus, der ihn sehen und mit ihm sprechen kann.
S. M. Arthur ist zwei berühmten Figuren der britischen Kulturgeschichte nachempfunden, dem Schriftsteller E. M. Forster, der als Ehrenfellow im Londoner King’s College lebte und nach „A Passage to India“, seinem größten Erfolg, nie wieder einen Roman publizierte, und dem Mathematiker Alan Turing. Beide mussten ihre sexuelle Orientierung, die in England bis 1967 strafbar war, verbergen. Turing, der an der Entschlüsselung der deutschen Chiffriermaschine „Enigma“ beteiligt war, wurde gezwungen, sich einer „chemischen Kastration“ zu unterziehen. Dasselbe widerfährt Simon Merlyn Arthur, der sich als Ritter einer Tafelrunde des zwanzigsten Jahrhundert entpuppt und Rache an seinem schlimmsten Peiniger nimmt.
Für diese meisterhafte Erzählung ist der ehemalige Cambridge-Zögling Salman Rushdie eingetaucht in die eigene Vergangenheit, als er als Student aus Indien in Cambridge studiert hat. Nun sieht er mit den Augen der jungen Inderin Rosa noch einmal auf diese Welt, auf Großbritannien und seine Eigenheiten, und erblickt, was ihm später und bis heute in vielen Teilen der Welt immer wieder begegnen sollte: brutale Repression, selbstgefällige Intoleranz, bodenlose Bigotterie.
Salman Rushdie: „Die elfte Stunde“. Fünf Erzählungen. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin Verlag, München 2025. 288 S., geb., 26,– €.

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