Die Anschläge des 11. September 2001 lagen erst ein paar Jahre zurück, niemand wollte Menschen im Land haben, auf die auch nur der Schatten einer Verwicklung in den internationalen Terrorismus fiel. Also verfügten die italienischen Behörden, dass Nassin Saadi Italien verlassen müsse. Der Tunesier war wegen diverser Delikte zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden, auch wenn sich der Terrorvorwurf nicht hatte nachweisen lassen. Doch im Frühjahr 2008 unterband der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Ausweisung, weil ihm in Tunesien „unmenschliche Behandlung“ oder Schlimmeres drohe. Ein Mensch dürfe nicht ins Verderben geschickt werden, so das Gericht, selbst wenn von ihm selbst eine Gefahr für sein Gastland ausgeht.
Das ist einer dieser Fälle, die derzeit die Minister des Europarats umtreiben, jener 46 Staaten umfassenden Organisation, deren wichtigste Institution ebenjener Gerichtshof ist. Ein nahezu absoluter Ausweisungsschutz auch für Verbrecher, wie ihn der Gerichtshof bis heute beharrlich vertritt – das steht quer zu allen Bemühungen europäischer Staaten um eine „Modernisierung“ des Flüchtlingsschutzes. So haben es dieser Tage der britische Premier Keir Starmer und die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen in einem Artikel im Guardian ausgedrückt; gemeint war natürlich „Reduzierung“.
Der Gerichtshof war stets streng im Umgang mit Pushbacks
Über den anderen Fall, der die Kritik an menschenrechtlichen Standards derzeit anheizt, hat der Gerichtshof in Straßburg im Februar verhandelt, ein Urteil steht noch aus. Es ging es um „Pushbacks“, die Rückschiebung von Flüchtlingen durch Polen, Litauen und Lettland ins Nachbarland Belarus. Die Menschen waren offenkundig mithilfe Russlands an Europas Grenze befördert worden, als Waffe in einem hybriden Krieg. Der Gerichtshof war stets streng im Umgang mit Pushbacks. Aber die schier unerträgliche Ambivalenz des Falles – schutzbedürftige Menschen als Instrument zynischer Attacken – lässt die Richter über mehr Spielräume für die Staaten nachdenken: „Gibt es ein absolutes Recht, ein Land unter jeglichen Umständen zu jeder Zeit zu betreten?“, fragte einer von ihnen in der Verhandlung.

Wie es aussieht, will die Politik die Absenkung asylrechtlicher Standards in der Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichts nun selbst voranbringen. In dieser Woche hat eine informelle Ministerkonferenz einen Arbeitsauftrag an das Ministerkomitee des Europarats erteilt. Bis zur nächsten Sitzung im Mai soll eine „politische Erklärung“ entworfen werden. Thema: die drängenden Probleme der irregulären Migration – die Instrumentalisierung von Flüchtlingen, das Schleusertum, der Menschenhandel.
Es geht um nationale Sicherheit. Und immer wieder um Ausländer, die wegen erheblicher Straftaten verurteilt sind. Es klang nach einer Richtungsentscheidung. „Die Wahl, die wir jetzt treffen, wird die nächsten Jahrzehnte bestimmen“, sagte Alain Berset, Generalsekretär des Europarats.
Der Gerichtshof ist Druck gewohnt. Diesmal allerdings wird die Kritik in breiter Front vorgebracht
Das Papier ist der nächste Schritt in einem Prozess, den im Frühjahr Ministerpräsidentin Frederiksen und ihre italienische Amtskollegin Giorgia Meloni angeschoben haben. In einem offenen Brief, den sieben weitere Länder unterzeichnet haben, forderten sie, die Abschiebung krimineller Ausländer zu erleichtern. Und beklagten sich, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs die nationalen Handlungsspielräume zu sehr einschränke.
Die geplante Erklärung dürfte also dazu dienen, politischen Druck auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufzubauen. Das ist für das Gericht keine gänzlich ungewohnte Situation, Großbritannien etwa hat immer mal wieder mit dem Austritt aus der Menschenrechtskonvention gedroht. Dieses Mal allerdings wird die Kritik in breiter Front vorgebracht, Polen, Belgien, Österreich und Tschechien sind dabei, die baltischen Staaten. Deutschland hat den Brief nicht unterschrieben, aber die aktuelle Migrationspolitik lässt vermuten, dass mindestens Teile der Regierung mit dem Herzen dabei sind.
Doch welche Konsequenzen hätte ein Migrationspapier der Mitglieder des Europarats für den Gerichtshof? „Eine Erklärung der Staaten hat rechtlich keine Relevanz für die Auslegung der Menschenrechtskonvention“, sagt Angelika Nußberger, bis 2020 deutsche Richterin am Gerichtshof, der Süddeutschen Zeitung. Zwar ist die Menschenrechtskonvention immer wieder durch Zusatzprotokolle erweitert worden, allerdings zur Ausweitung der Rechte, nicht zu ihrer Einschränkung. Um beispielsweise den im Flüchtlingsrecht oft einschlägigen Artikel 3 – das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung – abzuschwächen, benötigte man Einstimmigkeit im Europarat. Gerade bei diesem Artikel, der zum innersten Kern der Menschenrechte gehört, dürfte sie kaum zu erreichen sein.
Andreas Paulus, bis 2022 Richter am Bundesverfassungsgericht
Andererseits wäre eine „politische Erklärung“ mehr als ein Ratschlag von der Seitenlinie. Sie könnte bei der Auslegung der Konvention als „European consensus“ berücksichtigt werden, sagt Nußberger – für eine Neujustierung der Menschenrechte im Kontext der Migration. Verpflichtend wäre dieser Konsens nicht. Eher eine nachdrückliche Einladung an die Richter, sich nach dem neuen politischen Wind zu richten.
Der frühere Verfassungsrichter Andreas Paulus sieht darin sogar eine Chance. Eine gemeinsame Erklärung, getragen von allen Staaten des Europarats, könnte zum Zusammenhalt des europäischen Menschenrechtssystems beitragen. „Eine solche Erklärung würde sicher auch auf den Gerichtshof Eindruck machen und die Auslegung beeinflussen, ohne die Konvention abzuändern.“
Dennoch ist das Dilemma unübersehbar, in das der Gerichtshof damit gerät. Wenn er im – juristisch wirklich vertrackten – Pushback-Fall aus plausiblen Gründen zugunsten der Staaten entscheidet, dann kann ihm das trotzdem als Einknicken ausgelegt werden, mit Folgen für die richterliche Unabhängigkeit. „Es ist leider eine Lose-lose-Situation“, sagt Angelika Nußberger. „Entweder, der Menschenrechtsschutz wird deutlich abgesenkt. Oder der Gerichtshof wird politisch in die Ecke gestellt und seine Entscheidungen werden nicht befolgt.“










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