Die Zahl der neu diagnostizierten ADHS-Fälle bei Erwachsenen hat sich in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland verdreifacht. Das ist das Ergebnis einer im »Deutschen Ärzteblatt « veröffentlichten Studie, für die Forschende Daten von gesetzlich krankenversicherten Erwachsenen ausgewertet haben. Bekamen im Jahr 2015 noch 8,6 von 10.000 Erwachsenen neu die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), waren es im Jahr 2024 bereits 25,7. Analysen wie diese gab es in Deutschland bislang nicht.
Bei ADHS handelt es sich um eine Störung, die in vielen Fällen bereits seit der Geburt besteht. Vererbung spielt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung, auch Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen sowie Vernachlässigung erhöhen das Risiko. Die Autoren der Ärzteblatt-Studie schreiben daher: »Es ist anzunehmen, dass der Symptombeginn bei vielen Fällen deutlich früher lag und es sich größtenteils um verspätete Diagnosen handelt.«
Es ist bekannt, dass viele ADHS-Patientinnen und -Patienten in der Vergangenheit übersehen wurden und noch immer nicht alle identifiziert werden. Expertinnen gehen davon aus, dass 2,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ADHS haben.
Mädchen und Frauen werden noch übersehen
Der Untersuchung zufolge nahmen die ADHS-Neudiagnosen in allen Altersgruppen zu. Besonders groß waren die Zuwächse bei den jüngeren Erwachsenen (18 bis 34 Jahre). Männer bekamen insgesamt häufiger die Diagnose ADHS. Auch im Kindesalter sind Jungen etwa dreimal so oft betroffen wie Mädchen.
Allerdings nähern sich die Raten bei Frauen den Daten zufolge immer stärker an: Erhielten im Jahr 2015 noch 11,1 Männer und 6,7 Frauen von je 10.000 Personen neu eine ADHS-Diagnose, waren es im Jahr 2024 26,9 Männer und 24,8 Frauen. Vor allem bei jungen Frauen zwischen 25 und 29 Jahren wuchs die Zahl der Neudiagnosen (Inzidenz) stark: von 11,2 auf 70,6.
Aus den Abrechnungsdaten der Krankenkassen lässt sich nicht ablesen, warum die Inzidenzen so stark steigen. Aber es gibt naheliegende Annahmen: Bekannt ist etwa, dass eine ADHS vor allem bei Mädchen und Frauen lange unentdeckt bleibt. Bei Jungen stehen oftmals Hyperaktivität und Impulsivität im Vordergrund, sodass sie sozial und schulisch schneller auffallen. Bei Mädchen zeigen sich hingegen – mit Ausnahmen – vor allem Konzentrationsstörungen: Viele von ihnen träumen häufig, ziehen sich zurück oder reden besonders viel.
Ein weiterer Grund für die beobachtete Zunahme der Neudiagnosen könnte allerdings auch in der Methodik der Studie liegen: In der Untersuchung wurden die Daten von all jenen Patientinnen und Patienten ausgewertet, für die in den zwei vorangegangenen Jahren keine ADHS-Diagnose dokumentiert worden war. In diese Gruppe könnten auch junge Erwachsene fallen, nachdem sie von der Kinder- in die Erwachsenenmedizin gewechselt sind. Hatten sie bereits im Kindesalter eine ADHS-Diagnose erhalten, dann aber eine längere Versorgungslücke, fallen auch sie in die Gruppe derer mit einer »neuen« Diagnose.
Die Versorgung von Menschen mit ADHS ist in der empfindlichen Lebensphase zwischen 15 und 21 Jahren aus unterschiedlichen Gründen schwierig bis defizitär. Eine der Ursachen: Erst seit 2011 sind Arzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat offiziell für Erwachsene zugelassen . Wer also vor 2011 in die Erwachsenenmedizin wechseln musste, konnte nicht davon ausgehen, ohne Umwege weiterhin Medikamente zu bekommen. Das könnte zum Teil auch die gestiegenen Diagnoseraten erklären: Mit etwas zeitlichem Abstand zur Zulassung – neue Therapien müssen sich erst im Praxisalltag etablieren – haben Ärztinnen und Ärzte auch bei Erwachsenen häufiger die Diagnose ADHS gestellt, weil sie nun eine wirksame Therapie anbieten konnten.
Kein Hype, keine Modediagnose
Die Datenauswertung zeigt auch, dass die Neudiagnose-Raten seit 2020 besonders wachsen. Das hat vermutlich auch mit der verstärkten Aufmerksamkeit für das Thema in der Öffentlichkeit zu tun. »Die Zunahme ist meines Erachtens am ehesten auf eine vermehrte Sensibilität zurückzuführen«, sagt Andreas Reif, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Dass auch Erwachsene ADHS haben können, sei »bei Patienten wie auch bei Ärzten und Psychologen mehr bekannt und akzeptiert. Das führt zu einer steigenden Diagnoserate.« Gerade in der Gen Z sei das Krankheitsbild durch die sozialen Medien bekannt, was ebenfalls dazu führe, dass diese Hilfe suchten.
Während kritische Stimmen befürchten, es handele sich bei ADHS um eine »Modediagnose« oder einen »Hype« und es würden »normale« Eigenschaften pathologisiert, stellt der Psychiater Oliver Henning, Ärztlicher Leiter am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim, fest: »Individuelle Eigenart und behandlungsbedürftige Störung voneinander abzugrenzen ist insbesondere bei langanhaltenden psychischen Störungen nicht immer einfach. Entscheidend ist die Frage, ob deutliche Beeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen vorliegen. Fachgerecht gestellt, pathologisiert die Diagnose also keine normalen Eigenschaften.«
Problematisch ist hingegen, dass viele Erwachsene keinen niedergelassenen Facharzt finden, der eine Diagnose stellen und sie im Anschluss gegebenenfalls behandeln könnte. »Diagnostik wird oft nur in Spezialsprechstunden angeboten und diese sind großteils überlastet«, sagt Henning. »Viele Fachärzte bieten noch keine strukturierte ADHS-Diagnostik oder medikamentöse Therapie an.« Allerdings nehme das Wissen bei Haus- und Fachärztinnen deutlich zu.
Das zeigt auch die aktuelle Studie, meint Alexandra Philipsen, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. »Die Ergebnisse bedeuten, dass das Bewusstsein auch in den Praxen und in den Ambulanzen steigt. Menschen, die bisher unterdiagnostiziert waren, werden nun diagnostiziert und behandelt. Das sehe ich als positive Entwicklung.«
ADHS erhöht das Risiko für eine ganze Reihe weiterer Krankheiten: Dazu zählen etwa Depressionen und Suchterkrankungen, auch die Unfallgefahr steigt. »Das hat auch Auswirkungen auf die Sterblichkeit«, sagt Philipsen. »Es braucht die Hausärzte, die die betroffenen Familien oft lange kennen. Sie können erste Aufklärung vermitteln und dann in lokalen Netzwerken mit Psychiatern oder Psychotherapeuten gemeinsam die Versorgung stemmen.« (Lesen Sie hier, wieso Menschen mit ADHS seelisch verschleißen. )

vor 17 Stunden
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